Dr. Klaus Heer

Die Weltwoche vom 23. März 2011
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«Das Fleisch ist willig»

Therapeut Klaus Heer über Treue, das Auslagern sexueller ­Bedürfnisse und die Folgen von Internet-Pornografie.

VON BEATRICE SCHLAG
Herr Heer, ist der Mensch hilflos seinen Trieben ausgeliefert?
Von Trieben verstehe ich nichts, da müssten Sie einen Veterinär fragen.

Haben Sie etwas gegen das Wort Trieb im Zusammenhang mit menschlicher Se­xua­lität?
­Ja. Der Begriff ist ein tierischer Findling aus grauer christlicher und psychoanalytischer Vorzeit. Menschliche Sexualität ist immer und in erster Linie mit der Bedeutung verknüpft, die wir ihr geben. Jeder Mensch tut das auf seine eigene Weise.

Evolutionsbiologen wie der deutsche Professor Eckart Voland bezeichnen Entscheidungen als Produkte evolutionärer Programme, auch wenn wir sie subjektiv für rational halten. Die britische Hirnforscherin Susan Greenfield hingegen sagt: «Wer denkt, er habe einen freien Willen, hat einen freien Willen.» Was meinen Sie: Wie frei, wie rational sind wir?
Es stimmt sicher: Oft ist das Fleisch willig und der Geist schwach, wie es so schön heisst bei Matthäus und Markus. Aber selbst die beiden heiligen Evangelisten waren nicht weniger ambivalent als wir alle.

Was erwidern Sie den vielen Verfechtern der Ansicht, wenn es um Sex gehe, seien wir noch immer Höhlenmenschen?
Auch die Menschen in der Wildkirchlihöhle waren nicht nur wild, sondern genauso zärtlich und liebend wie wir heute.

Gab und gibt es Veränderungen im menschlichen Sexualverhalten, die Sie als Meilensteine bezeichnen würden?
Ja, zum Beispiel haben die Antibabypille und die Frauenemanzipation die Frauen auf gleiche erotische Augenhöhe gehievt – eine Entwicklung, die Viagra und Co. wieder teilweise rückgängig gemacht haben. Noch nicht absehbare Folgen für die heterosexuelle Liebe wird die tsunamiartige Flut der Internet-Pornografie haben.

Wie muss man sich das vorstellen? Werden viele Frauen mit Porno-Perfor­mances konkurrieren müssen, um Männer zu erregen?
Das auch, ja. Aber die gravierendsten Schäden richtet die Pornoflut in den Männerschädeln an. Sie versaut, versimpelt und verdreht die männliche Sexualität. Sie klaut dem Mann den erotischen Zauber. Ohne dass er’s merkt. Aber seine Frau merkt’s umso deutlicher.

Viele Männer gehen zu Prostituierten, obwohl sie die Beziehung zu ihrer Partnerin als gut bezeichnen. Was suchen sie bei Prostituierten?
Es ist das Outsourcing von Bedürfnissen, die sich zu Hause als utopisch, inopportun oder ernsthaft störend erwiesen haben.

Warum ist die Zahl der Frauen, die männliche Prostituierte aufsuchen, vergleichsweise verschwindend klein?
Es könnte sein, dass die Frauen doch noch nicht ausnahmslos sämtliche männlichen Holzwege nachvollziehen wollen oder können.

Wer geht nach Ihrer Erfahrung eher fremd, Männer oder Frauen?
Dieser Unterschied tendiert beunruhigend gegen null. Beunruhigend für die Ehemänner.

Warum gehen Männer und Frauen fremd?
Ganz einfach: weil man allem widerstehen kann ausser der Versuchung, wie ­Oscar Wilde gescheit geblödelt hat. Fast immer ist es die Gelegenheit, die Liebe macht. Egal, ob die Beziehung daheim befriedigt oder nicht. Ebenso sicher ist, dass es viele Paare gibt, die einander treu sind. Über Jahre und Jahrzehnte. Allerdings nicht ­alle freiwillig und aus Liebe. Manchmal fehlen schlicht Mut, Fantasie und Lebenslust.

Kann man sich zur Treue zwingen? Wenn ja, ist es empfehlenswert?
Man kann. Die Treue gilt bei jungen ­Leuten als gewichtigere Beziehungsqualität als selbst die Liebe, wie sich in Unter­suchungen bestätigt. Doch Treue ist nur dann vereinbar mit einem guten Leben und Zusammenleben, wenn das knifflige Kunststück einigermassen gelingt, zugleich dem anderen und sich selbst treu zu sein.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor