Dr. Klaus Heer

Berner Zeitung vom 16. Juli 2012
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«Mit 66 Jahren ist noch lange nicht Schluss»

SEX IN DER ZWEITEN LEBENSHÄLFTE Die Jahre bringen es mit sich, dass es im Bett oft nicht mehr so läuft wie früher. Viele verschweigen noch immer schamhaft das Thema. Dabei könnte es sich lohnen, Hilfe bei Fachleuten zu suchen. Schützt doch Liebe bekanntlich bis zu einem gewissen Grad vor Alter.
Sexualität ist nicht nur den Jungen vorbehalten. Im Gegenteil: Studien haben ergeben, dass die Zufriedenheit mit dem Sexualleben in der zweiten Lebenshälfte eher noch zunimmt. Der Mensch bleibt bis zum Lebensende ein sinnliches Wesen und geniesst Berührungen. Das sind bereits zwei triftige Gründe, sich nicht damit abzufinden, dass im Bett Funkstille herrscht.

Trockenheit tut weh
Die Wechseljahre vergällen Frauen oft die Freude am Sex. Hormonelle Veränderungen führen unter anderem dazu, dass die Vagina weniger durchblutet und somit Haut und Schleimhäute trockener und weniger elastisch werden. Die Folgen sind Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Oft zahlt sich schon der Gang in die Apotheke aus. «Neben Gleitmitteln gibt es Feuchthaltemittel und Emollienzien, die man wie eine Bodylotion an den entsprechenden Stellen aufträgt», sagt Petra Stute, Oberärztin Gynäkologie am Inselspital. Für viele Frauen, die lange sexuell aktiv sein möchten, werden diese Präparate zu Dauerbegleitern. Der Grund: Nach den Wechseljahren verschwinden zwar die Hitzewallungen wieder, doch die Scheidentrockenheit bleibt.

Bringen verschreibungsfreie Mittel keine Besserung, wäre in Absprache mit Gynäkologen ein Versuch mit hormonellen Präparaten möglich, die nur im Bereich der Vagina angewandt werden – im Gegensatz zur Hormonersatztherapie, die den gesamten Organismus beeinflusst. Vaginale Östrogene gibt es in Form von Tabletten, Zäpfchen, Cremen und Ringen. Letztere müssen nur alle drei Monate ausgewechselt werden. «Wenn sich Frauen an die Dosen halten und kein erhöhtes Risiko für Gebärmutterschleimhautkrebs besteht, sind vaginale Östrogene eine relativ sichere Lösung», so Stute.
«Entspannung und sich miteinander wohl fühlen sind wichtige Voraussetzungen für Sexualität»
Klaus Heer, Paartherapeut
Hormone als Versuch
Auch die Option einer vaginalen Anwendung von DHEA, einem Hormon, das im Körper teilweise in Testosteron umgewandelt wird, besteht. «Studien in den USA haben ergeben, dass DHEA nicht nur die Trockenheit der Vaginalhaut bessert, sondern auch die Libido steigert», sagt Stute.

Keine Frau brauche heute noch Angst vor Hormonen zu haben. «Wurden sie früher meist langfristig verordnet, wendet man sie heute probeweise für drei Monate an und passt je nach Bedarf die Dosis an», so Stute. Besteht keine Notwendigkeit mehr, werden sie abgesetzt.

Bei länger anhaltenden Beschwerden im Scheideneingangsbereich sei eine Abklärung nötig, um die chronische Hautkrankheit Lichen sklerosus auszuschliessen. Sie kann unbehandelt zur Schrumpfung von Klitoris und Schamlippen führen.

Der Frust mit der Lust
Oft führt auch Lustlosigkeit zur Flaute im Bett. Bestimmte Erkrankungen wie Diabetes oder eine Unterfunktion der Schilddrüse, aber auch Medikamente wie Antidepressiva können die Libido hemmen. Erektionsprobleme des Mannes oder Beziehungskrisen wirken sich ebenfalls aus. «In diesen Fällen sollte der Partner miteinbezogen werden. Ein wirkungsvolles Präparat allein ist dann nicht die Lösung», weiss Stute.

Entschliesst sich eine Frau, Wechseljahrbeschwerden mit Hormonen behandeln zu lassen, führen diese wieder zu einer besseren Durchblutung der Scheidenwände. Damit verschwinden die Schmerzen, die oft die Lust verhinderten. Eine Alternative sind Testosteronpflaster, die sich Frauen zweimal pro Woche auf den Bauch kleben. Oder Mittel aus der peruanischen Macawurzel, die als Vitalitätsspenderin gilt. Es gibt jedoch keine Studien, die ihre Wirksamkeit belegen.

Petra Stute ermuntert Frauen, es nicht als vom Schicksal gegeben anzusehen, dass körperliche Beschwerden die Freude an der Sexualität mindern. «Sprechen Sie Ärzte auf das Thema an. Viele Kollegen schneiden es aus Zeitmangel nicht an oder weil es ihnen ebenfalls an Mut fehlt.»
Männliches Schamthema
Sprachlosigkeit steht nicht nur Frauen im Wege. «Laut einer US-Studie genieren sich drei Viertel der Männer, die wegen sexueller Probleme den Hausarzt aufsuchen, dann doch darüber zu sprechen», weiss Daniel Nguyen, Urologe am Berner Inselspital. «Sie wünschten, die Mediziner würden von sich aus auf das Thema kommen.» Vielfach könnten ihnen die Hausärzte bereits helfen, denn nur für schwere Fälle von Impotenz sind Spezialisten wie Nguyen nötig.

Groben Schätzungen zufolge leiden etwa 25 bis 50 Prozent der 50-Jährigen und 50 bis 70 Prozent der 70-Jährigen an Erektionsproblemen. Hauptursachen sind neurologische oder Gefässprobleme, Medikamente wie Blutdrucksenker oder auch Folgen von Operationen an Prostata und Dickdarm. Dass das Glied nicht mehr steif wird, kann aber auch am Testosteronspiegel liegen. Er beginnt bereits ab dem 30.Lebensjahr zu sinken. «Der erste Schritt besteht darin, bestimmte Ursachen auszuschliessen», sagt Nguyen. Gibt es keinen spezifischen Grund, schlägt er Änderungen im Lebensstil vor. Gewichtsabnahme, der Verzicht auf Zigaretten und mehr Bewegung verbesserten oft bis zu einem gewissen Mass die erektile Funktion.

Viele Hilfen für die Potenz
In einem zweiten Schritt kann sich der Patient Viagra und verwandte Arzneimittel verschreiben lassen. Helfen sie nicht, gibt es die Möglichkeit, das Gewebshormon Prostaglandin in Zäpfchenform in die Harnröhre einzuführen oder es sich direkt ins Glied zu spritzen. Auch Prostaglandin erweitert die Gefässe und verleiht so dem Penis Standfestigkeit. Für Männer, die keine Medikamente nehmen wollen oder aufgrund von Krankheit nicht können, gibt es spezielle Pumpen. «Die allerletzte Möglichkeit ist die Schwellkörperprothese, die man sich implantieren lassen kann», sagt Nguyen. Allerdings sei das Verfahren in der Schweiz nicht sehr verbreitet.

Manchmal braucht es all diese Möglichkeiten auch nicht. «Männer entdecken mit den Jahren, dass Sexualität auch Berührungen und Zärtlichkeit bedeutet, und nicht nur den Koitus», sagt der Urologe. Bei lustlosen Patienten klärt auch er neben körperlichen psychische Ursachen ab, etwa Beziehungsstress. Mit Testosterongaben ist er zurückhaltend, da sie nicht für jeden geeignet sind. «Kommt allerdings ein ansonsten gesunder Mann zwischen 60 und 70 Jahren, dem Sexualität sehr wichtig ist und der Symptome eines Testosteronmangels aufweist, könnte man zusammen diese Option überlegen», so Nguyen.
LIEBE BRAUCHT ZEIT
Psychologie
Mit den Jahren kommt vielen Paaren die Sexualität auch aus Enttäuschung, Zeitmangel oder weil anderes wichtiger ist, abhanden. «Eheliches Zölibat ist verbreiteter, als man annehmen würde», beobachtet Paartherapeut Klaus Heer.

Doch so weit muss es nicht kommen. «Ist da noch ein wenig Glut, kann man sie wieder anfachen», ermuntert Heer. Wichtigste Voraussetzung sei, das Thema an eine prominente Stelle der Prioritätenliste zu rücken und dem Thema Zeit einzuräumen. «Entspannung und sich miteinander wohl fühlen sind wesentliche Voraussetzungen für Sexualität», so Heer.

Selbst bei Paaren, die sich kaum mehr an die letzte gemeinsame Nacht erinnern können, seien meist noch Reste von Zärtlichkeiten vorhanden. Diese gilt es sanft auszubauen. Zum Beispiel Umarmungen im Stehen. «Das ist etwas vom Schönsten, das es gibt. Man könnte sie jeweils um einen Atemzug verlängern», schlägt Heer vor. Oder unter dem Tisch füsseln, wie man es im Stadium der ersten Verliebtheit getan hat. «Es ist einen Versuch wert, zu schauen, was man früher alles zusammen gemacht hat und was sich reaktivieren lässt», so Heer. Wenn es dazu noch gelingt, in liebenswürdigem statt gehässigem Ton miteinander zu reden und den anderen mit Neugier zu betrachten, sei man auf einem guten Weg.

Eine erfüllte Sexualität nur auf Geschlechtsverkehr zu reduzieren, davon rät er ab. Das bedeute zu viel Stress. «Der Orgasmus wird überschätzt. Viel wichtiger ist, sich in körperlicher Nähe wohl zu fühlen.»
Juliane Lutz
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor