Dr. Klaus Heer

Berner Zeitung vom 5. November 2020
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«So bleiben Sie souverän»

Lockdown light Die Tage werden kürzer, die Freizeitaktivitäten weniger, die Angst vor Corona grösser. Fünf Berner Fachleute erklären, wie man die Nerven behält.
VON MIRJAM COMTESSE
Viele Bernerinnen und Berner ziehen sich in diesen Zeiten zu­rück. Das sorgt für mehr Span­nungen in den eigenen vier Wän­den. Aber auch mit Nachbarn, Freunden oder sogar Fremden kann es zu Streit kommen, wenn die Beteiligten die Distanzregeln unterschiedlich interpretieren. Wir haben fünf Fachleute ge­fragt, wie man mit schwierigen Situationen umgehen soll.
— Wie man gegenüber den Kindern gelassen bleibt

«Es kann sehr anstrengend sein, wenn die Eltern daheim arbeiten müssen und die Kinder quengeln. Idealerweise reagiert man, bevor man am Limit ist. Dann sagt man dem Sohn oder der Tochter, wie­ so etwas nicht geht und was man von ihm oder ihr erwartet.

Wenn die Wut hochkocht, ist es entscheidend, sich eine Sekun­de Zeit zu nehmen, bevor man explodiert. Dann sieht man wieder Handlungsalternativen. Rumbrüllen ist zwar nicht das Al­lerbeste, aber es ist völlig in Ord­nung, mal laut zu sagen: ‹Jetzt drehe ich dann gleich durch.›

Man kann dem Kind auch er­ klären, dass man im Augenblick zu wütend ist zum Diskutieren. Dann sagt man vielleicht: ‹Ich mache jetzt einen Spaziergang, danach reden wir in Ruhe.›

Grundsätzlich gilt, dass man die Gefühle des Kindes ernst neh­men sollte. Es ist verständlich, wenn es gefrustet ist, weil zum Beispiel das Fussballtraining ausfällt. Aber man sollte deutlich machen, dass es nicht okay ist, diesen Frust auszuleben, indem man auf Mutter oder Vater los­ geht oder etwas kaputt macht.

Falls ein Teenager seine Eltern angreift, muss man sich profes­sionelle Hilfe holen, zum Beispiel beim Elternnotruf oder der Er­ziehungsberatung. Ein jüngeres Kind, das schlägt, darf man fest­ halten und ihm erklären, dass man anderen nicht wehtut. Eltern müssen sich nicht schlagen las­sen, und Kinder müssen lernen, dass Gewalt keine geeignete Stra­tegie ist, um Konflikte zu lösen.»

Regula Bernhard Hug, Leiterin der Geschäftsstelle Kinderschutz Schweiz
— Wie man Streit mit dem Partner vermeidet

«Zuerst die schlechte Nachricht: Kein Mensch hält es unbeschadet aus, wenn er andauernd mit einem anderen innerhalb dersel­ben Mauern leben muss. Einge­engt und eingeklemmt. Und jetzt die gute Nachricht: Sie müssen nicht. Auch nicht im Mini­Lock­ down oder im Homeoffice.

Sie denken vielleicht, das müsste doch gehen, wenn Ihre Liebe gross genug wäre. – Nein, geht nicht. Denn Lieben ist wie Einatmen und Ausatmen. Lieben ist Nähe und Abstand. Sich An­nähern und sich Entfernen. Die meisten Liebenden vernachlässigen den Abstand, gewohnheits­mässig. Weil sie übersehen, dass der Abstand die kühlere Hemi­sphäre der Liebeswelt ist. Wenn der Abstand fehlt, verschmort Ihre Liebe. Sie erstickt langsam.

Social Distancing, geht das überhaupt zu Hause? Es geht. Es muss gehen. Wie? Seien Sie er­finderisch. Mutig. Witzig.

Arbeiten, schlafen, chillen Sie in einem eigenen Zimmer. Wenns geht. Waldbaden oder joggen Sie allein. Hören oder machen Sie Musik. Tauschen Sie sich mit anderen Leuten aus, am Telefon, per Whatsapp, leibhaftig. Tun Sie derlei handfest und beherzt. Und wissen Sie was? Die Wiederan­näherung an den Partner kommt dann ganz von selbst.»

Klaus Heer, Paartherapeut
— Wie man Gefühle von Einsamkeit lindert

«Die sozialen Einschränkungen machen vielen zu schaffen. Die Anzahl der Leute, die bei der Dargebotenen Hand anrufen, weil sie sich einsam fühlen, ist deut­lich angestiegen. Wir glauben, dass die Betroffenen selber die Ex­perten für ihr Leben sind. Deshalb präsentieren wir nicht einfach Lö­ sungen, sondern wir schauen im Gespräch, was ihnen Freude be­ reitet und was ihnen in ähnlichen Situationen geholfen hat.

Wir versuchen, mit den Betrof­fenen eine Tagesstruktur zu erarbeiten. So wird der Tag in klei­ne Einheiten unterteilt und er­ scheint nicht mehr endlos. Immer gut – auch für die Psyche – ist Be­wegung. So hilft zum Beispiel ein Spaziergang am Morgen, den Ein­stieg in den Alltag zu finden.

Oft überlegen wir gemeinsam mit den Anrufern, wen sie kontaktieren könnten. Dann rufen sie vielleicht einen alten Freund an oder schreiben einer Freundin einen Brief. Eventuell gibt es auch Nachbarn, die Unterstützung brauchen. So kann man mal für die gestresste Familie nebenan et­was Gutes tun, Hilfe anbieten oder einen Kuchen backen – und spürt: Man macht etwas Sinnvolles.

Wichtig ist, dass man sich nicht ständig mit Corona beschäf­tigt. Man sollte sich maximal zwei Mal am Tag über die neus­ten Entwicklungen informieren. Sonst besteht die Gefahr, dass die Gedanken im Kopf pausenlos ums gleiche Thema kreisen.»

Franziska Nydegger, Stellenleiterin von Tel. 143 Bern
— Wie man seine Wohnung herausputzt
«Wenn mehr Personen mehr Zeit zu Hause verbringen, ist es wich­tig, Raum zu schaffen für sich und seine Bedürfnisse. Je nach Möglichkeit kann man eine Le­seecke einrichten, eine Kuschel­ecke oder eine Musikecke.

Wer im Homeoffice arbeitet, sollte darauf achten, Arbeit und Freizeit klar zu trennen. Ideal wäre natürlich ein eigener Raum als Büro, ansonsten muss der Esstisch herhalten. Dann wäre man mit einem Rollcontainer gut be­dient, um die wichtigsten Büro­materialien griffbereit zu halten und schnell wieder wegräumen zu können. Alternativ kann in einer freien Ecke ein Mini­Office eine gute Lösung sein.

Im Wohnzimmer verbringen ebenfalls viele mehr Zeit als sonst. Wer frischen Wind hinein­ bringen möchte, kann mit wenigen Handgriffen die Atmos­phäre verändern. Grosse Wirkung erzielen etwa Accessoires wie Kissen oder Tagesdecken, frische Blumen oder Pflanzen – und Bil­der. Jetzt wäre vielleicht die idea­le Zeit, endlich die Bilderwand mit den Fotos aus dem letzten Urlaub zu gestalten. Licht schenkt zudem Wärme und Geborgenheit. Dafür eignen sich hübsche Tisch­lampen und Kerzen.»

Jacqueline Leisi, Inhaberin des Interior Design Studios «Raum­ focus» in Büren an der Aare
— Wie man Grenzen zieht, ohne zum Polizisten zu werden

«Wenn man die Umstände nicht ohne weiteres verändern kann, dann ist die Einstellung ent­scheidend. Ganz allgemein empfehle ich, dass man sich eine gesunde Gelassenheit antrainiert und positive Denkmuster pflegt.

Vorsicht ist angesagt, aber Angst oder Panik sind kontraproduktiv und machen auf die Dau­er krank. Dagegen hilft, sich zu informieren und an den Fakten zu orientieren. Wer über seine Ängste spricht, kann in der Regel besser damit umgehen. Idealer­ weise hält man ausgesuchte Kon­takte aufrecht und pflegt sie.

Man sollte Sorge zu sich tra­gen und gleichzeitig Rücksicht auf andere nehmen. Ich finde So­lidarität mit jenen wichtig, die in dieser Situation Hilfe brauchen, sei es, weil sie krank, einsam oder motorisch eingeschränkt sind.

Wenn jemand keine Maske trägt oder den Abstand nicht ein­ hält, bringt es wenig, als Ord­nungshüter aufzutreten. Nicht immer steckt eine böse Absicht dahinter. Humor und Freundlich­keit sind allemal zielführender als Massregelungen und generv­tes Nörgeln. Letzteres provoziert zumeist genau das Gegenteil – eine Abwehrreaktion.»

Pasqualina Perrig­Chiello, Berner Generationenforscherin
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor