Dr. Klaus Heer

blue News vom 18. März 2021
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«Vorwürfe sind unappetitlich verpackte Liebeserklärungen»

Zu einer Ehe gehört, den anderen zu tolerieren und manches auch einfach auszuhalten. Paartherapeut Klaus Heer kennt den Alltag, aber auch die Ausnahmezustände der Liebe und er weiss: Es gibt keine Partnerschaft, in der beide immer dasselbe wollen.

VON BRUNO BÖTSCHI
Klaus Heer, wenn ein Paar in Ihre Praxis kommt, sehen Sie dann sofort, wie der Stand der Beziehung ist?
Wie sollte ich? Ich bin kein Hellseher. Kommen Sie mir jetzt nicht damit, ich hätte doch eine grosse Erfahrung.

Momoll, ich komme Ihnen genau damit. Sie sind seit 47 Jahren als Paartherapeut tätig.
Exakt diese grosse Erfahrung hindert mich daran, über ein Paar vorurteilsmässig zu fantasieren. Meine Erfahrung ist kein Schubladenstock, in die ich die Zwei stecke. Ich kenne sie nicht. Aber ich freue mich auf sie.

Denken Sie wirklich nie, wenn Sie ein Paar zum ersten Mal sehen: ‹Ach, wie wollen die noch einmal zusammenfinden?›
Niemals. Ich weiss ja nicht einmal, ob sie beide tatsächlich wieder ‹zusammenfinden› wollen. Es kann gut sein, dass einer von beiden das Weite suchen möchte, aber den Mut und die Kraft dazu nicht hat. Merke: Es gibt kein Paar, wo beide dasselbe wollen. Einer will links, der andere rechts. Immer. Fast immer.

Wie läuft die erste Sitzung bei Ihnen ab? Gibt es irgendwelche Regeln oder haben Sie fixe Fragen, die Sie am Anfang unbedingt ‹abarbeiten› möchten mit einem Paar?
Sobald wir uns im gleichseitigen Dreieck mit 2,4 Meter Abstand gegenübersitzen, geht es los. Übrigens gab es diese Arbeitsdistanz bei mir schon immer, nicht erst seit den bundesrätlichen Seuchenvorgaben. Also, ich frage meistens zuerst nach der beziehungsmässigen Grosswetterlage. Die Antworten geben häufig bereits die Route unserer Expedition zu dritt vor. Wenn nicht, will ich jetzt wissen: Was möchten Sie heute mit mir zusammen erreichen?

Sie könnten das Paar auch fragen, wo der Schuh genau drückt.
Nein, das tue ich nicht. Würde ich nach der Selbstdiagnose fragen, bekäme ich Auskünfte, mit der sich die beiden seit Langem quälen. Sie wissen, wo es klemmt – meistens beim Anderen, dem Partner. Also frage ich lieber perspektivisch. Nicht: In welcher Klemme sitzen Sie?

Sondern?
Wohin wollen Sie, konkret?

Wer antwortet schneller: die Frau oder der Mann?
Schwer zu sagen. Gewöhnlich wer in grösserer Not oder mehr unter Druck ist. Oder der Überlegene in der Beziehung, der rhetorisch Begabtere, der Kontaktfreudigere. Manchmal der Unerschrockenere. Mann-Frau-Unterschiede sind mir bisher nicht aufgefallen.

Fast jede zweite Ehe in der Schweiz wird geschieden. Aus Ihrer ganz persönlichen Erfahrung: Welches Alter ist das gefährlichste für verheiratete Paare?
Nun übertreiben Sie mal nicht, Herr Bötschi! Die Scheidungsrate ist in den letzten 15 Jahren deutlich gesunken. Von rund 50 Prozent um die Jahrtausendwende auf etwas über 35 Prozent heute. Aber Achtung: weniger Scheidungen heisst nicht etwa mehr ‹glückliche› Ehen. Merke: Ehe ist ein hochriskantes Projekt.

Wann ist das ‹Projekt Ehe› besonders absturzgefährdet?
Wenn Kinder dazukommen, glaube ich. Die meisten Paare unterschätzen die Wahrscheinlichkeit, dass sie diesem Lackmustest nicht gewachsen sein werden. Sie romantisieren ihre geplante Elternschaft. In Wahrheit ist der Übergang vom Liebespaar zum Elternpaar ‹gfürchig›. Bedrohlich.

Wenn ein Paar zu Ihnen kommt, ist es dann mehrheitlich so, dass beide Partner schon sehr viel nachgedacht haben über die Beziehung?
Nachgedacht ja. Wirklich sehr viel. Frust und Leiden kurbeln das Denken unweigerlich an. Nur: Nachdenken bringt nichts, wenn es sich im Kreis dreht. Kreisförmiges Miteinanderreden eben auch nicht. Forschungen haben gezeigt, dass Paare durchschnittlich plus/minus sechs stressige Dilemma-Jahre brauchen, um zu dem Schluss zu kommen: Wir sind am Ende unseres Lateins. Und brauchen eine Handreichung.

Wie können Sie als Paartherapeut diese negative Spirale aufbrechen?
Eine Fachperson wie ich ist fähig, am ‹Ende des Lateins› Übersetzungsdienste zu leisten. Und zwar nicht wie der maschinelle Google-Übersetzer. Ich bin vielmehr ein Meister im Zuhören. Vom Reden in sogenannten Ich-Botschaften halte ich zum Beispiel nicht viel. Auch nicht von der Empfehlung, man solle einander möglichst keine Vorwürfe machen. Nicht der Sender muss optimiert werden; in der Taubheit des Empfängers sitzt die Störung.

Der US-amerikanische Beziehungsforscher John Gottmann hat eine 5:1–Regel aufgestellt. Übersetzt heisst das: Einem negativen Erlebnis, dass das Gegenüber der Partnerin/dem Partner beschert hat, müssen mindestens fünf positive gegenüberstehen, um die Stimmung nicht dauerhaft zu vermiesen. Ihr Vorgehen ist demnach, wenn ich Sie richtig verstehe, ein anderes. Oder?
Eine chronisch miese Stimmung wird nicht aufgehellt, wenn ich fünfmal ‹lieb› bin zum anderen. Das wäre naiv. Und auch nicht im Sinn von Gottman. Eine veritable Beziehungskrise geht viel tiefer. Sie macht deutlich, dass ich – ja, ich! – nicht willens und nicht fähig bin, zu erkennen: Ich bin eine Zumutung für meinen Partner. Er sagt mir das zwar immer wieder, aber ich will es partout nicht hören.

Es heisst ja: Selbsterkenntnis sei der erste Schritt zur Besserung.
Genau. Mein Partner unterstützt mich mit grossem Nachdruck bei dieser Selbsterfahrung. Wie kein anderer Mensch versorgt er mich mit den nützlichen Daten. Er sagt mir, inwiefern ich konkret schwierig bin, zu wenig beziehungsfähig. Mühsam halt. Nicht weil er mich umerziehen will. Er möchte eher, dass er es aushalten kann mit mir.
Nur aushalten? Tönt ziemlich abtörnend. Nicht?
Ja, stimmt. Aber nur, wenn Ihre Beziehungs-Erwartungen unrealistisch und idyllisch sind. Merke: Vorwürfe sind unappetitlich verpackte Liebeserklärungen. Bitte interessiert auspacken!

Was passiert, wenn Sie ein Paar mit dem möglichen Ende einer Beziehung konfrontieren?
Ab und zu – glücklicherweise relativ selten – quält sich ein Paar extrem mit psychischer und physischer Gewalt herum und findet den Ausgang nicht aus seiner toxischen Verstrickung. Und die beiden Unglücklichen drohen einander immer wieder mit Trennung. Doch es passiert nichts. Ich sehe, dass ihnen die Fantasie fehlt. Sie können sich eine Scheidung überhaupt nicht vorstellen. Jetzt lade ich sie ein, auf meiner Website das ‹Arbeitsblatt für Trennungsvereinbarung› herunterzuladen. Und probeweise auszufüllen. Wenn ich Glück habe, ist das ein Schock für sie.

Warum ist der Schock ein Glück für sie?
Der missliche Status quo ist ja das Motiv des Paares, sich professionellen Support zu organisieren. Wenn sich absolut nichts bewegt in Richtung Neustart, bin ich geneigt, das zu einem Drittel auf meine Kappe zu nehmen.

Sagen Sie es einem Paar direkt ins Gesicht, wenn Sie denken, dass die Beziehung nicht mehr zu kitten ist? Oder versuchen Sie, die Sitzungen so zu leiten, dass das Paar selbst darauf kommt?
Ich habe eine Aussensicht von dem Paar, ich kann nicht sehen, was in den beiden vorgeht, also innen. Meistens gelangt nur einer der Partner an einem bestimmten Punkt zu der Gewissheit, dass seine Liebe für den Anderen zerbrochen ist. Sobald ich das vermute, vergewissere ich mich bei ihm, ob der Liebesbruch wirklich existenziell tief ist – oft eine notwendige und schmerzhafte Hilfestellung.

Ist Fremdgehen immer noch das Allerschlimmste, was sich Eheleute antun können?

Ja. Im hyperaufgeklärten 21. Jahrhundert wirkt der ‹Liebesverrat› ebenso bitter wie vor Tausenden von Jahren.

Die Liebe zwischen zwei Menschen ist abhandengekommen: Wie kann man sie wiederbeleben?
Erstens beschreiben Partner, die sich entliebt haben, ihre Erfahrung häufig mit der Formulierung: ‹Ich habe keine Gefühle mehr für dich.› Das trifft die Realität aber nur ungenau. Eigentlich müsste es heissen: ‹Meine Gefühle für dich haben sich erschreckend verändert.› Und zweitens lassen sich Gefühle nie wiederbeleben. Das wäre eine Mischung aus Defibrillator und biblischer Lazarus-Story. Gefühle sind eigenwillig und nur indirekt beeinflussbar.

Das stelle ich mir ziemlich kompliziert vor.
Kompliziert? – Nein. Beispiel: Eine Frau berichtet in der Sitzung, ihr Mann sei unfassbar wortkarg. Besonders wenn sie zu zweit allein seien. Beim alltäglichen Nachtessen etwa. Es sei praktisch unmöglich, mit ihm etwas Persönliches auszutauschen. Sie fühle sich sehr einsam zu zweit.

Wie können Sie als Paartherapeut jetzt das Paar dabei konkret unterstützen, dass neues Leben an den Esstisch einkehrt?
Ich erzähle der Frau, ich hätte hier in der Sitzung gerade eine ganz andere Erfahrung gemacht. Der Mann sei genauso gesprächig und offenherzig wie sie. Ich vermute, füge ich hinzu, dass er hier in der Beratung ein Gegenüber erlebt habe, das interessiert sei an ihm – nämlich ich. Bei ihnen beiden fehle eben das gegenseitige Interesse. Des Mannes Desinteresse sei stumm, das der Frau wortreich. Jetzt schlage ich zum Beispiel vor, dass die Frau ihrem Mann etwas frage, das sie besonders interessiert an ihm. Weil sie ihn nicht versteht. Und dann unterstütze ich sie beim sorgfältigen Zuhören. Sie und ich sind dabei mächtig herausgefordert.

So grundsätzlich: Führen Paare heute insgesamt bessere Beziehungen als unsere Gross- und Urgrosseltern?
Das wüsste ich auch gern. Ich weiss nicht einmal, welche Kriterien ich bei dem Vergleich heranziehen könnte – wenn ich sie denn zur Hand hätte. Aber eben: wüsste, könnte, hätte! Was ich indes fast sicher annehmen darf, ist dies: Unsere Vorfahren waren bestimmt ebenso bemüht um ihr gemeinsames Wohlergehen wie wir heutigen Liebenden. Und mit ebenso zweifelhaftem Erfolg.

Bekommen Sie nach einer gelungenen Paartherapie hin und wieder Fanpost?
Danke der Nachfrage. Fanpost? – So gut wie nie. Gott sei Dank.

Ist Ihnen auch schon passiert, dass ehemalige Klientinnen und Klienten mit ihrer neuen Liebe zu Ihnen in die Beratung kamen und sagten: ‹Alles was ich beim Herr Heer gelernt habe, musst du auch wissen. Denn wenn du das weisst, können wir in Zukunft problematische Situationen besser zusammen meistern.›
Ich sehe, Herr Bötschi, Sie möchten unbedingt einen wohlklingenden Schluss-Akkord haben. Also: Der oder die Ehemalige hat es immerhin zustande gebracht, die ‹neue Liebe› bei mir über die Schwelle zu bewegen. Es gilt tatsächlich eine ziemlich beeindruckende Schwelle aus Angst, Zweifel und Resignation zu überwinden, um derlei Paarbeistand anzunehmen. Inzwischen haben das bereits auch mehrere Nachkommen von ehemaligen Klientenpaaren geschafft. Wow, ihnen biete ich jetzt meine Second-Hand-Begleitung an.

Sie haben seit 47 Jahren fast jede Woche mit Paarproblemen zu tun. Wie hat sich das auf Ihre eigenen Beziehungen ausgewirkt?
Die Wirkung zeigt sich eher umgekehrt: Mein eigenes Beziehungsleben ist und war immer rabiate Weiterbildung für meinen Beruf. Meine zwei Halbtagsvater-Jahrzehnte, speziell meine schmerzhafte Scheidung und die vielen darauffolgenden Patchwork-Jahre haben mich nie in Ruhe gelassen. Merke: Unruhe hält wach.

Das Interview mit Paartherapeut Klaus Heer wurde als schriftliches Ping-Pong geführt.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor