blue News vom 25. Juni 2021
«Nach 30 Jahren Ehe kam für mich nur noch Alleinleben infrage»
Gerade morgens, beim Aufstehen, wird den meisten ab einem bestimmten Tag mehr und mehr bewusst: Ich werde alt. Wie findet man den Frieden mit sich und der unausweichlichen Realität? Ein Interview in zwei Teilen.
VON BRUNO BÖTSCHI
VON BRUNO BÖTSCHI
Klaus Heer, Sie werden im Dezember 78. Andere Menschen in Ihrem Alter sitzen im Heim und warten auf die letzte Stunde. Sie hingegen arbeiten nach wie vor regelmässig als Paartherapeut.
Im Asyl sitzend den eigenen Hinschied abwarten – für mich eine abstossende Fiktion! Ich möchte übrigens auch nicht den Traumtod vieler Leute sterben, nämlich des nachts lautlos vom Gevatter abgeholt zu werden. Ich liebäugle eher mit dem Vorgehen des Swatch-Gründers Nicolas Hayek. Mit 82 legte der – so berichtet es die Legende – eines Tages plötzlich seinen Kopf auf seine Computer-Tastatur und war weg.
‹Wichtig ist, die Grenzen des eigenen Lebens zu akzeptieren, offen zu sein für jüngere Generationen und Neugier zu zeigen bis ins hohe Alter›, sagt Altersforscher François Höpflinger. Können Sie mit dieser Aussage etwas anfangen?
Ja, klar kann ich. Ob sie wirklich für alle Leute wichtig und wahr ist, weiss ich nicht. Für Höpflinger und für mich sicher.
Ein normaler Tag von Ihnen, wie sieht der heute aus?
Mein Werktag startet gewöhnlich richtig spät. Mit digitalem Zeitunglesen im Bett, dann Ausdauertraining auf dem Trampolin und mit dem Crosstrainer. Nach reichlicher Arbeit am iMac verziehe ich mich für eine Stunde oder länger in den nahen Wald, manchmal mit einem Hörbuch im Ohr, oft auch die bewegte Waldstille geniessend oder die Hand meiner Frau in der meinen. Meistens sehe ich am Nachmittag ein Klientenpaar oder zwei. Und später habe ich häufig Gäste oder bin selbst zu Gast. Um Mitternacht herum gehe ich Gassi, ausgiebig. Mit mir allein.
Und am Wochenende, was sind da Ihre Lieblingsbeschäftigungen?
Samstag/Sonntag bin ich nie erwerbstätig. Dafür umso hingebungsvoller in der Natur. Zum Beispiel ein 20'000-Schritte-Projekt in einem Entlebucher Seitentäli ist gut. Oder im abgelegensten Winkel des Val de Travers. Und natürlich im Kiental, wo wir eine kleine Wohnung haben, meine Frau und ich. Wir verreisen am Wochenende gern etwas weiter weg. Weil da die Züge meist beinah leer sind. Manchmal habe ich mich im Verdacht, so etwas wie ein scheuer Misanthrop zu sein. Mich ziehen Gegenden ohne Leute an. Das passt mir. Besonders wenn es regnet.
Und wann machen Sie mal Pause, Herr Heer?
Je älter ich werde, umso schmaler wird für mich die Bedeutung von ‹Pause›, ‹Freizeit›, ‹Weekend› und ‹Ferien›. Ich mag das nicht, dieses «absichtslose Nichtstun». Mindestens Lesen, Telefonieren, Essen, Schreiben, mich Bewegen, Besuchen, Besuchtwerden, Kochen muss sein. Ich lebe so, dass ich keine Ferien brauche. Ferien sind eingewebt in jeden meiner Alltage.
Haben Sie Angst vor dem Rasten, weil Sie fürchten schneller einzurosten?
Nein, Rostangst habe ich keine. Gnadenlose Entschleunigung ist mir einfach zu langweilig. Eine romantisierende Idealvorstellung ist das doch: Wer schafft das schon, diesen freiwilligen erhabenen Stillstand? Ich habs ein paar Mal versucht in meinem Leben. Geht nicht. Widerspricht meinem angeborenen Bewegungsdrang.
Als eine Gefahr des Alterns gilt die Vereinsamung.
Einsamkeitsgefühle sind mir nicht fremd, ich geb's zu. Im Sinne von ‹Kein Schwein ruft mich an›. Ich bevölkere ja meinen Einpersonenhaushalt. Von denen gibt’s, glaube ich, gegen 40 Prozent in der Schweiz. Solche leichte Anwandlungen von Verlassenheit habe ich indes nicht, wenn ich allein zu Hause bin, sondern wenn längere Zeit keiner von den Leuten, die mir lieb sind, nach mir fragt.
Ein-Personen-Haushalt? Wohnen Sie und Ihre Frau nicht zusammen?
Nein. Nach fast dreissig Jahren Ehe- und Familienzeit und Scheidung kam für mich nur noch Alleinleben infrage. Seit 13 Jahren geniesse ich es als alter Mann wieder, wenn es heisst: ‹Zu dir oder zu mir?›
Wie wird heute Abend Ihre Antwort auf die Frage lauten?
‹Du bei dir, ich bei mir.› Die nächsten Tage sind wir beide bei uns. In den Bergen.
Im Asyl sitzend den eigenen Hinschied abwarten – für mich eine abstossende Fiktion! Ich möchte übrigens auch nicht den Traumtod vieler Leute sterben, nämlich des nachts lautlos vom Gevatter abgeholt zu werden. Ich liebäugle eher mit dem Vorgehen des Swatch-Gründers Nicolas Hayek. Mit 82 legte der – so berichtet es die Legende – eines Tages plötzlich seinen Kopf auf seine Computer-Tastatur und war weg.
‹Wichtig ist, die Grenzen des eigenen Lebens zu akzeptieren, offen zu sein für jüngere Generationen und Neugier zu zeigen bis ins hohe Alter›, sagt Altersforscher François Höpflinger. Können Sie mit dieser Aussage etwas anfangen?
Ja, klar kann ich. Ob sie wirklich für alle Leute wichtig und wahr ist, weiss ich nicht. Für Höpflinger und für mich sicher.
Ein normaler Tag von Ihnen, wie sieht der heute aus?
Mein Werktag startet gewöhnlich richtig spät. Mit digitalem Zeitunglesen im Bett, dann Ausdauertraining auf dem Trampolin und mit dem Crosstrainer. Nach reichlicher Arbeit am iMac verziehe ich mich für eine Stunde oder länger in den nahen Wald, manchmal mit einem Hörbuch im Ohr, oft auch die bewegte Waldstille geniessend oder die Hand meiner Frau in der meinen. Meistens sehe ich am Nachmittag ein Klientenpaar oder zwei. Und später habe ich häufig Gäste oder bin selbst zu Gast. Um Mitternacht herum gehe ich Gassi, ausgiebig. Mit mir allein.
Und am Wochenende, was sind da Ihre Lieblingsbeschäftigungen?
Samstag/Sonntag bin ich nie erwerbstätig. Dafür umso hingebungsvoller in der Natur. Zum Beispiel ein 20'000-Schritte-Projekt in einem Entlebucher Seitentäli ist gut. Oder im abgelegensten Winkel des Val de Travers. Und natürlich im Kiental, wo wir eine kleine Wohnung haben, meine Frau und ich. Wir verreisen am Wochenende gern etwas weiter weg. Weil da die Züge meist beinah leer sind. Manchmal habe ich mich im Verdacht, so etwas wie ein scheuer Misanthrop zu sein. Mich ziehen Gegenden ohne Leute an. Das passt mir. Besonders wenn es regnet.
Und wann machen Sie mal Pause, Herr Heer?
Je älter ich werde, umso schmaler wird für mich die Bedeutung von ‹Pause›, ‹Freizeit›, ‹Weekend› und ‹Ferien›. Ich mag das nicht, dieses «absichtslose Nichtstun». Mindestens Lesen, Telefonieren, Essen, Schreiben, mich Bewegen, Besuchen, Besuchtwerden, Kochen muss sein. Ich lebe so, dass ich keine Ferien brauche. Ferien sind eingewebt in jeden meiner Alltage.
Haben Sie Angst vor dem Rasten, weil Sie fürchten schneller einzurosten?
Nein, Rostangst habe ich keine. Gnadenlose Entschleunigung ist mir einfach zu langweilig. Eine romantisierende Idealvorstellung ist das doch: Wer schafft das schon, diesen freiwilligen erhabenen Stillstand? Ich habs ein paar Mal versucht in meinem Leben. Geht nicht. Widerspricht meinem angeborenen Bewegungsdrang.
Als eine Gefahr des Alterns gilt die Vereinsamung.
Einsamkeitsgefühle sind mir nicht fremd, ich geb's zu. Im Sinne von ‹Kein Schwein ruft mich an›. Ich bevölkere ja meinen Einpersonenhaushalt. Von denen gibt’s, glaube ich, gegen 40 Prozent in der Schweiz. Solche leichte Anwandlungen von Verlassenheit habe ich indes nicht, wenn ich allein zu Hause bin, sondern wenn längere Zeit keiner von den Leuten, die mir lieb sind, nach mir fragt.
Ein-Personen-Haushalt? Wohnen Sie und Ihre Frau nicht zusammen?
Nein. Nach fast dreissig Jahren Ehe- und Familienzeit und Scheidung kam für mich nur noch Alleinleben infrage. Seit 13 Jahren geniesse ich es als alter Mann wieder, wenn es heisst: ‹Zu dir oder zu mir?›
Wie wird heute Abend Ihre Antwort auf die Frage lauten?
‹Du bei dir, ich bei mir.› Die nächsten Tage sind wir beide bei uns. In den Bergen.
Ihr Erfolgsrezept im Alter ist demnach: Zweisamkeit, aber mit Distanz.
Ich bin nicht der Chefkoch.ch, predige keine Rezepte. Ich erzähle Ihnen nur, wie wir’s machen, meine Frau und ich. Auch das kann sich wieder ändern.
Sie sind demnach nicht mit dem US-amerikanischen Schriftsteller Philipp Roth einverstanden, der in seinem Roman ‹Jedermann› den berühmten Satz schrieb: ‹Das Alter ist kein Kampf; das Alter ist ein Massaker.›
Mit dem Roth’schen ‹Massaker›-Satz habe ich tatsächlich vor Jahren öfter kokettiert. Inzwischen hat sich der innere Tumult etwas gelegt. Vielleicht nur, weil ich ‹gesund› altere und ein begabter und geübter Verdränger bin. Natürlich werde ich keinesfalls gesund sterben können, ich weiss das. Ob ich gelassen bleiben kann, wenn ich auf der Zielgeraden zum Krematorium bin, weiss ich indes nicht. Vermutlich nicht.
So grundsätzlich: Ist das Thema Alter in unserer Gesellschaft zu negativ besetzt?
Ich gehe regelmässig in ein nahes Altersheim und lese einem ‹betagten› Mann – nur vier Jahre älter als ich – vor. Er freut sich immer auf mich und hängt an meinen Lippen. Ich bin praktisch sein einziger Besucher. Er liegt den ganzen Tag auf seinem Bett, halbnackt, in Plastikwindeln, in Embryostellung. Dreimal täglich ist Nahrungsaufnahme, um 19 Uhr offizielle ‹Bettruhe›. Die Sonne scheint noch lange in sein Zimmer. Ist das jetzt ‹negativ›? Für uns beide natürlich nicht. Wir geniessen beide die ‹Kindergeschichten› von Peter Bichsel. Aber was Ihre Frage betrifft: Die Alten sind uns generell wohl eher gleichgültig. Ich schliesse das unter anderem aus den Unmengen an Medikamenten, mit denen man sie gewohnheitsmässig tagtäglich ‹versorgt›. Mich schockiert das über alle Massen.
Wie gut und wie selbstständig ich im Alter lebe, ist auch eine Frage des Geldes.
Ja, klar. Lieber betagt und reich als altersarm, nicht wahr? Ich habe Glück: Ohne Pension – ausser AHV – lebt sich's gut, sehr gut, solange ich gesund und klar im Kopf bin und drum mit Freude arbeiten kann wie seit 47 Jahren. Das Leben hat mich immer nach Strich und Faden verwöhnt, bis heute: Ich liebe Autonomie und viel Spielraum. Fremdfinanziertes Pensionistendasein wäre nichts für mich.
Sie sprechen viel von den schönen Seiten des Alters. Trotzdem haben viele Menschen Angst vor dem Alter und vor dem Sterben. Warum?
Nicht jeder ist ein Verdrängungs-Ass.
Denken Sie heute mit 78 öfters ans Sterben als mit 50?
Nein. Aber ich rede mehr drüber. Mit meiner Frau und mit den zwei, drei allernächsten Freunden.
Sind es schreckliche Gedanken?
Nicht wirklich. Ich bin seit Jahrzehnten Exit-Mitglied. Dieser Notausgang nimmt meinem Tod und sogar meinem Sterben zumindest ihre schlimmsten Schrecken. Selbstbestimmung ist mir auch am Schluss lieb und teuer.
Wie alt möchten Sie werden?
Gegen sogenannte ‹lebensverlängernde Massnahmen› der Schulmedizin habe ich mich bereits schriftlich verwahrt.
Gibt es einen schönen Tod?
Nein, tot ist tot. Und mein Sterben ist dann ‹schön›, wenn ich ausdrücklich ja sagen kann dazu – zum Beispiel weil ich neugierig darauf bin, wie das geht, das Sterben.
Wenn Sie zurückblicken: Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben? Gibt es etwas, das Sie bereuen, das Sie heute anders machen würden?
Das Paradoxon ist krass und erstaunt mich selbst: Ich hatte ein gutes Leben und gleichzeitig gibt es eine Unzahl von Fehlentscheidungen in meiner Biografie. Das jetzt hier auszudeutschen, wäre viel zu weitläufig und viel zu intim. Drum: kä Luscht.
Ich bin nicht der Chefkoch.ch, predige keine Rezepte. Ich erzähle Ihnen nur, wie wir’s machen, meine Frau und ich. Auch das kann sich wieder ändern.
Sie sind demnach nicht mit dem US-amerikanischen Schriftsteller Philipp Roth einverstanden, der in seinem Roman ‹Jedermann› den berühmten Satz schrieb: ‹Das Alter ist kein Kampf; das Alter ist ein Massaker.›
Mit dem Roth’schen ‹Massaker›-Satz habe ich tatsächlich vor Jahren öfter kokettiert. Inzwischen hat sich der innere Tumult etwas gelegt. Vielleicht nur, weil ich ‹gesund› altere und ein begabter und geübter Verdränger bin. Natürlich werde ich keinesfalls gesund sterben können, ich weiss das. Ob ich gelassen bleiben kann, wenn ich auf der Zielgeraden zum Krematorium bin, weiss ich indes nicht. Vermutlich nicht.
So grundsätzlich: Ist das Thema Alter in unserer Gesellschaft zu negativ besetzt?
Ich gehe regelmässig in ein nahes Altersheim und lese einem ‹betagten› Mann – nur vier Jahre älter als ich – vor. Er freut sich immer auf mich und hängt an meinen Lippen. Ich bin praktisch sein einziger Besucher. Er liegt den ganzen Tag auf seinem Bett, halbnackt, in Plastikwindeln, in Embryostellung. Dreimal täglich ist Nahrungsaufnahme, um 19 Uhr offizielle ‹Bettruhe›. Die Sonne scheint noch lange in sein Zimmer. Ist das jetzt ‹negativ›? Für uns beide natürlich nicht. Wir geniessen beide die ‹Kindergeschichten› von Peter Bichsel. Aber was Ihre Frage betrifft: Die Alten sind uns generell wohl eher gleichgültig. Ich schliesse das unter anderem aus den Unmengen an Medikamenten, mit denen man sie gewohnheitsmässig tagtäglich ‹versorgt›. Mich schockiert das über alle Massen.
Wie gut und wie selbstständig ich im Alter lebe, ist auch eine Frage des Geldes.
Ja, klar. Lieber betagt und reich als altersarm, nicht wahr? Ich habe Glück: Ohne Pension – ausser AHV – lebt sich's gut, sehr gut, solange ich gesund und klar im Kopf bin und drum mit Freude arbeiten kann wie seit 47 Jahren. Das Leben hat mich immer nach Strich und Faden verwöhnt, bis heute: Ich liebe Autonomie und viel Spielraum. Fremdfinanziertes Pensionistendasein wäre nichts für mich.
Sie sprechen viel von den schönen Seiten des Alters. Trotzdem haben viele Menschen Angst vor dem Alter und vor dem Sterben. Warum?
Nicht jeder ist ein Verdrängungs-Ass.
Denken Sie heute mit 78 öfters ans Sterben als mit 50?
Nein. Aber ich rede mehr drüber. Mit meiner Frau und mit den zwei, drei allernächsten Freunden.
Sind es schreckliche Gedanken?
Nicht wirklich. Ich bin seit Jahrzehnten Exit-Mitglied. Dieser Notausgang nimmt meinem Tod und sogar meinem Sterben zumindest ihre schlimmsten Schrecken. Selbstbestimmung ist mir auch am Schluss lieb und teuer.
Wie alt möchten Sie werden?
Gegen sogenannte ‹lebensverlängernde Massnahmen› der Schulmedizin habe ich mich bereits schriftlich verwahrt.
Gibt es einen schönen Tod?
Nein, tot ist tot. Und mein Sterben ist dann ‹schön›, wenn ich ausdrücklich ja sagen kann dazu – zum Beispiel weil ich neugierig darauf bin, wie das geht, das Sterben.
Wenn Sie zurückblicken: Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben? Gibt es etwas, das Sie bereuen, das Sie heute anders machen würden?
Das Paradoxon ist krass und erstaunt mich selbst: Ich hatte ein gutes Leben und gleichzeitig gibt es eine Unzahl von Fehlentscheidungen in meiner Biografie. Das jetzt hier auszudeutschen, wäre viel zu weitläufig und viel zu intim. Drum: kä Luscht.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor