blue News vom 23. Juni 2021
«Ich habe nur noch wenig zu verlieren»
Gerade morgens, beim Aufstehen, wird den meisten ab einem bestimmten Tag mehr und mehr bewusst: Ich werde alt. Wie findet man den Frieden mit sich und der unausweichlichen Realität? Ein Interview in zwei Teilen.
VON BRUNO BÖTSCHI
VON BRUNO BÖTSCHI
Herr Heer, Sie werden im Dezember 78 Jahre alt. Wie hat sich Ihr Körper heute beim Aufstehen angefühlt?
Er verdutzt mich jeden Morgen. Hey, nichts tut weh! Mein Körper ist immer noch der gutmütige Alte.
Sie spüren das Älterwerden nicht?
Doch, doch, klar. Nicht nur vom Älterwerden, auch vom Altsein weiss ich einiges. Aber am Morgen im Bett ist das noch kein Thema. Da lädt sich mein Organismus erst mal in aller Ruhe mit Energie auf.
Sorry, das glaube ich Ihnen nicht. Ich bin 54 und mir tut ab und an mein Körper weh, wenn ich am Morgen erwache.
Macht nichts, ich rede ja von meinem Körper, nicht von Ihrem. Ich wollte Ihnen aber kurz von meiner morgendlichen Aufladung erzählen. Seit Jahrzehnten bewegen mich jeden Tag irgendwelche Projekte. Schreiben, Reden, Zuhören, Ausdenken, Planen und so. Die Zeit zwischen dem Aufwachen und dem Aufstehen, dieser Zwischenraum zwischen Schlaf und Wach, der bietet mir die erspriesslichsten Augenblicke des Tages. Und dieser Zeitraum wird immer länger. Inzwischen kann das gut und gern eine Stunde dauern. Manchmal auch zwei. Und dann halte ich es plötzlich nicht mehr aus in meinen Decken.
Ich gratuliere Ihnen: Mit 78 keine Zipperlein zu kennen, finde ich natürlich wunderbar.
Wie kommen Sie denn auf null Zipperlein? Ich bin bitte immerhin Krebsüberlebender und meine Augen sind auch mehrfach operiert.
Sie kennen also doch auch einige Gebresten?
Am happigsten sind die Nebenwirkungen der Krebsbestrahlungen vor neun Jahren. Nein, sonst keine Gebresten.
Sie kamen am 9. Dezember 1943 in Luzern zur Welt. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Teenagerzeit: Verbrachten Sie da die Morgenstunde auch gern etwas länger im Bett?
Nein, gar nicht. Ich war ein bedauernswerter Streber. Bis zur Matura. Später, an der Uni, war ich zusätzlich eher subdepressiv, weil überfordert.
Ich würde gern mit Ihnen über das Älterwerden korrespondieren. Und das fängt ja bereits in jungen Jahren an.
Ja, diese Weisheit habe ich auch schon gehört. Aber mich begann sie erst zu betreffen, als ich langsam Jahrringe zulegte, vor vielleicht zehn Jahren. Und ich wollte auf keinen Fall werden wie mein vollfetter Onkel Rudolf. Doch der BMI wuchs, beinah unbremsbar. Im Moment schramme ich haarscharf an der Schrecklimite 25 vorbei. Ich stemme mich tapfer gegen den Fluch «alt gleich fett».
Wissen Sie noch, was Sie als 18-Jähriger über 80-Jährige dachten?
In meiner Kinder- und Jugendzeit war mein Vater Leiter eines Altersheims. Dort gab es eine Stimmung wie in einem alten Schwarz-Weiss-Film über ein vergammeltes zaristisches Greisen-Lager. Die Alten waren nicht alt, sondern steinalt. Versteinert. Verstört. Mir katzfremd. Leider hat mein Vater nicht dran gedacht, mein Altenbild menschenwürdig zu beeinflussen.
Er verdutzt mich jeden Morgen. Hey, nichts tut weh! Mein Körper ist immer noch der gutmütige Alte.
Sie spüren das Älterwerden nicht?
Doch, doch, klar. Nicht nur vom Älterwerden, auch vom Altsein weiss ich einiges. Aber am Morgen im Bett ist das noch kein Thema. Da lädt sich mein Organismus erst mal in aller Ruhe mit Energie auf.
Sorry, das glaube ich Ihnen nicht. Ich bin 54 und mir tut ab und an mein Körper weh, wenn ich am Morgen erwache.
Macht nichts, ich rede ja von meinem Körper, nicht von Ihrem. Ich wollte Ihnen aber kurz von meiner morgendlichen Aufladung erzählen. Seit Jahrzehnten bewegen mich jeden Tag irgendwelche Projekte. Schreiben, Reden, Zuhören, Ausdenken, Planen und so. Die Zeit zwischen dem Aufwachen und dem Aufstehen, dieser Zwischenraum zwischen Schlaf und Wach, der bietet mir die erspriesslichsten Augenblicke des Tages. Und dieser Zeitraum wird immer länger. Inzwischen kann das gut und gern eine Stunde dauern. Manchmal auch zwei. Und dann halte ich es plötzlich nicht mehr aus in meinen Decken.
Ich gratuliere Ihnen: Mit 78 keine Zipperlein zu kennen, finde ich natürlich wunderbar.
Wie kommen Sie denn auf null Zipperlein? Ich bin bitte immerhin Krebsüberlebender und meine Augen sind auch mehrfach operiert.
Sie kennen also doch auch einige Gebresten?
Am happigsten sind die Nebenwirkungen der Krebsbestrahlungen vor neun Jahren. Nein, sonst keine Gebresten.
Sie kamen am 9. Dezember 1943 in Luzern zur Welt. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Teenagerzeit: Verbrachten Sie da die Morgenstunde auch gern etwas länger im Bett?
Nein, gar nicht. Ich war ein bedauernswerter Streber. Bis zur Matura. Später, an der Uni, war ich zusätzlich eher subdepressiv, weil überfordert.
Ich würde gern mit Ihnen über das Älterwerden korrespondieren. Und das fängt ja bereits in jungen Jahren an.
Ja, diese Weisheit habe ich auch schon gehört. Aber mich begann sie erst zu betreffen, als ich langsam Jahrringe zulegte, vor vielleicht zehn Jahren. Und ich wollte auf keinen Fall werden wie mein vollfetter Onkel Rudolf. Doch der BMI wuchs, beinah unbremsbar. Im Moment schramme ich haarscharf an der Schrecklimite 25 vorbei. Ich stemme mich tapfer gegen den Fluch «alt gleich fett».
Wissen Sie noch, was Sie als 18-Jähriger über 80-Jährige dachten?
In meiner Kinder- und Jugendzeit war mein Vater Leiter eines Altersheims. Dort gab es eine Stimmung wie in einem alten Schwarz-Weiss-Film über ein vergammeltes zaristisches Greisen-Lager. Die Alten waren nicht alt, sondern steinalt. Versteinert. Verstört. Mir katzfremd. Leider hat mein Vater nicht dran gedacht, mein Altenbild menschenwürdig zu beeinflussen.
Und Ihre Mutter, wie hat die Sie beeinflusst?
Sie war eine gottesfürchtige Frau – im allerstrengsten Wortsinn. Je älter sie wurde, umso mehr fürchtete sie sich vor der glühenden Hitze im Fegefeuer. Ihr Schicksal: «Je älter, je Angst.» Sie war der bösartigen Dauer-Hirnwäsche des damaligen katholischen Klerus voll auf den Leim gekrochen. Meine Lehre daraus: Gib niemals das Selberdenken preis. Ein anspruchsvolles Projekt, ich weiss.
Nochmals: Was dachten Sie, Herr Heer, mit 18 über ältere Menschen?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Alten damals ein Thema für mich waren. Ich war jung und aufstrebend.
Als ich 25 wurde, dachte ich, über das Älterwerden kann ich mir mit 40 noch Gedanken machen. Seit ich jetzt aber 50 bin, fällt mir das immer schwieriger.
Mir wird grad klar: Für mich gilt eher die Bauernregel «Je älter, desto Verdrängung».
Ach, Herr Heer, bitte denken Sie nochmals ein, zwei Momente darüber nach, wie das damals war …
Kä Luscht.
Jetzt benehmen Sie sich also grad so wie ein quengelnder Teenie. Oder ist dies jetzt das berühmte Kind im Manne?
Weder noch. Ich bin alt, wissen Sie. Ich habe nur noch wenig zu verlieren. Darum entscheidet mehr und mehr mein Lustprinzip. Verdrängen macht Freude.
Die Kunst des Alterns ist demnach, es einerseits zu akzeptieren und andererseits zu vergessen.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich berichte Ihnen hier nur, wie ich selber das empfinde und mache. Jeder Alte muss sich persönlich zurechtfinden mit seinem Alter. Ja, ich will möglichst annehmen, was nicht zu ändern ist. So weit wie möglich fokussiere ich nicht auf Arges und Bedrohliches. Und drittens bin ich darauf aus, jeden Tag Herz und Hirn offen zu halten. Klingt doch schön und gut, nicht wahr?
Sehr schön und sehr gut sogar. Für Sie ist demnach das Älterwerden eine total gefreute Sache?
Aha, Sie haben meine Ironie nicht ganz mitbekommen. Und jetzt übertreiben Sie. Natürlich gelingt es mir in keinem der drei Punkte, meinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Zum Beispiel muss ich feststellen, dass ich fast jeden Tag einmal richtig gallig werde. Weil Leute nicht so sind, wie ich mir das vorstelle. Und dann denke ich: Wirst langsam ein grauer Griesgram! Nicht schön, oder?
Gar nicht schön, ich auf jeden Fall mache um griesgrämige Menschen immer einen riesengrossen Bogen. Ist es eigentlich vom Geschlecht abhängig, wie gut man mit dem Älterwerden zurechtkommt?
Nein. Für mich gilt: Unterschiede der Menschen sind allemal grösser als die zwischen den Geschlechtern. Meine ich.
Sie war eine gottesfürchtige Frau – im allerstrengsten Wortsinn. Je älter sie wurde, umso mehr fürchtete sie sich vor der glühenden Hitze im Fegefeuer. Ihr Schicksal: «Je älter, je Angst.» Sie war der bösartigen Dauer-Hirnwäsche des damaligen katholischen Klerus voll auf den Leim gekrochen. Meine Lehre daraus: Gib niemals das Selberdenken preis. Ein anspruchsvolles Projekt, ich weiss.
Nochmals: Was dachten Sie, Herr Heer, mit 18 über ältere Menschen?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Alten damals ein Thema für mich waren. Ich war jung und aufstrebend.
Als ich 25 wurde, dachte ich, über das Älterwerden kann ich mir mit 40 noch Gedanken machen. Seit ich jetzt aber 50 bin, fällt mir das immer schwieriger.
Mir wird grad klar: Für mich gilt eher die Bauernregel «Je älter, desto Verdrängung».
Ach, Herr Heer, bitte denken Sie nochmals ein, zwei Momente darüber nach, wie das damals war …
Kä Luscht.
Jetzt benehmen Sie sich also grad so wie ein quengelnder Teenie. Oder ist dies jetzt das berühmte Kind im Manne?
Weder noch. Ich bin alt, wissen Sie. Ich habe nur noch wenig zu verlieren. Darum entscheidet mehr und mehr mein Lustprinzip. Verdrängen macht Freude.
Die Kunst des Alterns ist demnach, es einerseits zu akzeptieren und andererseits zu vergessen.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich berichte Ihnen hier nur, wie ich selber das empfinde und mache. Jeder Alte muss sich persönlich zurechtfinden mit seinem Alter. Ja, ich will möglichst annehmen, was nicht zu ändern ist. So weit wie möglich fokussiere ich nicht auf Arges und Bedrohliches. Und drittens bin ich darauf aus, jeden Tag Herz und Hirn offen zu halten. Klingt doch schön und gut, nicht wahr?
Sehr schön und sehr gut sogar. Für Sie ist demnach das Älterwerden eine total gefreute Sache?
Aha, Sie haben meine Ironie nicht ganz mitbekommen. Und jetzt übertreiben Sie. Natürlich gelingt es mir in keinem der drei Punkte, meinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Zum Beispiel muss ich feststellen, dass ich fast jeden Tag einmal richtig gallig werde. Weil Leute nicht so sind, wie ich mir das vorstelle. Und dann denke ich: Wirst langsam ein grauer Griesgram! Nicht schön, oder?
Gar nicht schön, ich auf jeden Fall mache um griesgrämige Menschen immer einen riesengrossen Bogen. Ist es eigentlich vom Geschlecht abhängig, wie gut man mit dem Älterwerden zurechtkommt?
Nein. Für mich gilt: Unterschiede der Menschen sind allemal grösser als die zwischen den Geschlechtern. Meine ich.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor