Dr. Klaus Heer

Ze!tpunkt vom 10. März 2023
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«Kann wenigstens der Paartherapeut der Gesellschaft helfen?»

Die Beziehungen in der Gesellschaft sind seit drei Jahren schwer gestört. Über wichtige Themen kann gar nicht debattiert werden, und viele Menschen reden nicht einmal mehr miteinander. Wir haben den Paartherapeuten Klaus Heer nach Lösungen gefragt.

INTERVIEW: CHRISTOPH PFLUGER
Der Berner Paartherapeut Klaus Heer erregte bereits in den 1970er Jahren mit provokanten Radiosendungen über Beziehungsthemen schweizweit Aufsehen. Er brachte Dinge zur Sprache, die man sich vorher an einem Staatssender nicht vorstellen konnte.

Wir haben das Gespräch mit Klaus Heer gesucht, weil die nun seit drei Jahren laufende Krisenkaskade viele Beziehungen auf allen Ebenen durcheinander gebracht hat: die Beziehung zu uns selber (was ist eigentlich wahr?), die Beziehung zu unseren Nächsten (warum fürchten sie sich vor etwas, das nicht wirklich greifbar ist? Oder umgekehrt: Warum sind sie so sorglos angesichts grosser Gefahren?) und die Beziehungen in der Gesellschaft (mit denen darf man gar nicht reden!). Wir versuchen, im Gespräch mit Klaus Heer die Gemeinsamkeiten dieser Beziehungsprobleme herauszufinden und mögliche Lösungen zu erkunden.

Zeitpunkt: Mit Ihren 80 Jahren und einer beindruckenden Liste von Veröffentlichungen und Radiosendungen sind Sie so etwas wie der Doyen der Beziehungstherapeuten in der Schweiz. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Problemen in einer Partnerschaft und den gesellschaftlichen Konflikten?
Klaus Heer: Das weiss ich eigentlich nicht. Ich bin ja kein psychologischer oder soziologischer Forscher. Eher ein altgedienter Handwerker auf dem Feld der Zweierbeziehungen. Aber ich gebe zu, oft habe ich den laienhaften Eindruck, am Küchentisch herrsche ungefähr dasselbe Gezerre wie draussen vor der Tür.

Während unüberbrückbare Divergenzen in einer Partnerschaft mit einer Scheidung gelöst werden, ist dies in der Gesellschaft nicht möglich. Wir können nicht plötzlich in zwei verschiedenen Versionen der Schweiz oder auf zwei Erden leben.
Sie haben Recht: Die Scheidung ist ein Glücksfall für die Ehe. Sie, die Ehe, muss nicht unbedingt zum Hochsicherheitsknast verkommen. Die Türe nach draussen ist offen. Natürlich kann man aber auch eine gehörige Sanierung der Beziehung versuchen. Gewiss ein strapaziöses Unterfangen.

Sie meinen also, dass die Tür nach draussen – ein «Glücksfall für die Ehe» – der Gesellschaft verschlossen bleibt?
Mächtige Umwälzungen im Inneren einer Gesellschaft wie eine Revolution oder ein grossflächiges Unglück wie ein Krieg oder ein Bürgerkrieg sind natürlich möglich. Ebenso eine dramatische Veränderung der natürlichen Lebensbedingungen – ob menschengemacht oder nicht.

In vielen Fragen geht es heute ums Überleben: Wenn wir das CO2 nicht reduzieren, verbrennt die Erde; wenn wir den Krieg eskalieren lassen, riskieren wir die atomare Vernichtung. In Fragen des Überlebens gibt es keinen Kompromiss, den wir für eine Verständigung dringend brauchen. Wie finden Paare eine Lösung in Konflikten, bei denen keine Kompromisse möglich scheinen?
Sie unterschätzen offenbar die schneidende Schärfe mancher Paar-Zwickmühlen. Ich wage die steile These: jedes Paar ist mit einem Problem konfrontiert, das nicht lösbar ist. Ja, Sie haben richtig gehört: mindestens ein Paarproblem ist nicht zu lösen. Beim besten Willen nicht.

Oh Gott!
Ach, kommen Sie ... Der liebe Gott schafft das auch nicht. Eine halbe Schwangerschaft gibt es nicht bei der Frage, wollen wir Eltern werden? Oder einer ist emotional sprudelnd und der andere arg verstopft und wortkarg – also hardwaremässig sind die beiden sehr unterschiedlich. Oder er ist ein extremer Morgenmensch, sie das krasse Gegenteil. Kompromisse – hier Fehlanzeige.

Also keine Lösung?
Doch! Zwei Schritte sind nötig. Eins: das Paar muss sich darauf einigen, ob ein bestimmtes haariges Problem lösbar ist – wie die allermeisten Paarkalamitäten – oder eben nicht. Wenn die beiden couragiert übereinkommen: ja, unsere Klemme ist unauflösbar, dann sind sie einen Riesenschritt weiter. Nämlich bei Schritt zwei, der nur noch halb so mühsam ist wie der erste: Sie können sich entscheiden, die Last des Unlösbaren zu tragen, gemeinsam. Ohne Wenn und Aber. Im Volksmund nennt man das «Liebe».
Die grosse Crux in Beziehungskonflikten ist das plötzliche Verschwinden der Liebe, die vorher unvergänglich erschien. Auch der demokratische Zusammenhalt schien unverbrüchlich. Aber jetzt ist er weg.
Nein. Es ist nicht die Liebe, die verschwindet. Eher die verstaubten romantischen Ideen darüber, was Liebe ist oder sein soll. Ebenso wenig ist jüngst der «demokratische Zusammenhalt» zerbrochen. Mir scheint, wir neigen dazu, die «gute alte Zeit» zu vergolden – eine Alterserscheinung, die nicht erst im Greisenalter grassiert. Früher war nicht «alles besser», weder in unseren Beziehungen noch im unserem Land. Auch nicht bei unseren Ahnen.

Sondern?

Sondern die Realität zeigt sich je länger schärfer und unverbrämter. Wir können sie nicht weiter hemmungslos schönfärben. Partner und Beziehung lassen mehr und mehr ihr wahres Gesicht erkennen. Und die Coronazeit hat sichtbar gemacht, dass sowohl der soziale Friede als auch die verfassungsmässige Freiheit in Wirklichkeit fragiler sind als wir immer glaubten.

Nähe und Distanz sind wichtige Faktoren sowohl in einer Beziehung als auch in der Gesellschaft. In einer Beziehung können wir uns aus dem Weg gehen. In einer dichter werdenden Gesellschaft ist das schwer möglich. Haben Sie Vorschläge, wie wir uns in Ruhe lassen können?
Da stimmt wohl beides nicht wirklich, glaube ich. Viele Beziehungen serbeln gerade deshalb, weil zwei Leute unfähig sind, mutig auf den eigenen Füssen zu stehen. Sie wagen es nicht, ihre erschreckenden Unterschiede wahrzunehmen und als wahr anzunehmen. In einer dichtegeplagten Gesellschaft ist es ganz ähnlich. Volksabstimmungen haben gezeigt, dass ungefähr 2/3 der Menschen den Vorgaben von Regierung und Presse unkritisch hinterherlaufen. Man will lieber nicht als abseitig auffallen, und sich der Missbilligung der Mehrheit aussetzen.

Können Sie sich ein Leben in einer gespaltenen Gesellschaft vorstellen, in der eine substanzielle Minderheit durch Vorschriften und Kontrollen immer mehr eingeengt wird?
Ich brauche mir das gar nicht vorzustellen. Als Impfunwilliger habe ich es in der letzten Zeit handfest erlebt. Es war ungemütlich und beängstigend, elementarer Grundrechte beraubt zu sein.

Und wie würden Sie sich in einer solch totalitären Gesellschaft verhalten?
Ich traue mir nicht. In der Coronazeit war ich oft nahe daran, meinen Widerstand gegen die mRNA-«Impfung» aufzugeben. Mein inneres Parlament schwankte immer zwischen knapp 50 Prozent dafür und wenig über 50 Prozent dagegen. Im Unterschied zu meiner Lebenspartnerin, die alleweil zu 100 Prozent dagegen war und ist. Gut möglich, dass ich in einem totalitären Umfeld meinen aufrechten Gang einbüssen würde.

Unsere Beziehungen werden stark vom gesellschaftlichen und politischen Umfeld geprägt, das wir aber nicht beeinflussen können. Was können wir als Individuen unternehmen, das Gespräch über weltanschauliche Grenzen hinweg in Gang zu bringen?
Diesseits und jenseits der weltanschaulichen Grenzen gibt es womöglich ähnliche Gefühle, nämlich Ängste. Wer Angst hat, ist verbunden mit denen, die ebenfalls Angst haben. Corona hat uns doch alle zu einer akut ängstlichen Gesellschaft verbunden. Wir fürchteten uns zwar vor unterschiedlichen Bedrohungen, aber genau genommen waren wir alle wie eine verschreckte, eingeschüchterte Kinderschar. Warum eigentlich haben wir einander nicht davon erzählt und einander zugehört? Sondern sind eher aufeinander losgegangen ... Warum?

Haben Sie eine Antwort darauf?
Auch bei mir sind in den letzten drei Jahren zwei langjährige Freundschaften zerbrochen. Warum ? Weil mir das Rechthaben wichtiger war als die Freundschaft.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor