Dr. Klaus Heer

20minuten vom 2. November 2017
Stacks Image 88380

«Pornos verleiten Paare zu gefährlichem Sex»

Praktiken wie Anal- und Oralsex sind bei jungen Menschen beliebt geworden. Darum nähmen Geschlechtskrankheiten zu, sagt ein Urologe.

VON BETTINA ZANNI
Syphilis ist in der Schweiz auf dem Vormarsch. Bereits 1011 Fälle wurden 2017 beim Bundesamt für Gesundheit gemeldet – doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor.«Die Sexualität einiger jungen Menschen ist heute vollkommen enthemmt», sagt Gernot Bonkat, Urologe der Alta Uro AG Basel und Chef der europäischen Richtlinienkommission Urogenitale Infektionen der Europäischen Gesellschaft für Urologie.

In den 80er-Jahren seien Sexualpraktiken mit besonders hohen Ansteckungsrisiken (siehe Box) wie Anal- und Oralverkehr weitgehend tabu gewesen. Höchstens erfahrene Paare hätten diese ausprobiert. «Heute dagegen sind diese Techniken und allerlei Massagen im Geschlechtsbereich wie Damm- und Prostatamassagen bei vielen jungen Leuten normal.» Nicht selten starteten sie ihr erstes Mal mit derartigen Praktiken. «Der leichte Zugang zu Pornografie im Internet hat dazu beigetragen, dass junge Menschen zu allen möglichen Nachahmungen bereit sind.»

«Blümchensex gilt als langweilig»

Auch Paartherapeut Klaus Heer bestätigt, dass der Pornokonsum einen grossen Einfluss auf das Sexualleben junger Paare hat: «Aus purer Verliebtheit und um die Harmonie nicht zu gefährden, lassen sich manche junge Frauen von ihrem Freund zu Sexformen drängen, die ihnen eigentlich klar zuwider sind.» Gleichzeitig seien junge Frauen heute aber auch neugieriger, Anal- oder Oralsex auszuprobieren. «Blümchensex gilt als langweilig, weil Pornos suggerieren, dass solche Praktiken viel geiler und ekstatischer sind.»

Und Esther Elisabeth Schütz, Sexualtherapeutin am Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie ISP Uster, stellt fest: «Da die Gesellschaft sexuell offener geworden ist, trauen sich junge Menschen mehr Experimente zu.» Während früher vor allem Männer Anal- und Oralsex wünschten, würden mittlerweile auch Frauen die Initiative ergreifen.

Verliebt und krank

Doch die Experimentierfreudigkeit birgt auch Gefahren. Da Kondome in Pornoclips praktisch nicht vorkommen, ist das Bewusstsein für das grosse Ansteckungsrisiko bei derartigen Praktiken laut Klaus Heer verblasst. «Es ist also gut möglich, dass sich ein junges Paar in den 90 Tagen der kopflosen Verliebtheit mit solchen Experimenten die eine oder andere Geschlechtskrankheit einfängt.»

Bonkat warnt: «Bei allen Praktiken, in denen Körperflüssigkeiten ausgetauscht werden, besteht das Risiko, sich eine Geschlechtskrankheit wie Syphilis einzufangen.» Bei jungen Frauen nähmen aber auch Blasenentzündungen zu. «Oft stellt sich dann heraus, dass die jungen Damen ungeschützten Analsex hatten.» Die Bakterien, die vom Anus in die Scheide gelangten, begünstigten Blasenentzündungen.

Junge Männer sind durch die enthemmte Sexualität laut Bonkat vermehrt von psychische Folgen betroffen. «Mittlerweile sehen wir in unserer Praxis fast jeden Tag einen Mann zwischen 20 und 30 Jahren mit Erektionsproblemen.» Dabei handle es sich jedoch fast immer um physisch kerngesunde Patienten. «Da sie sich durch die Pornos aber so stark unter Druck setzen, funktioniert am Ende gar nichts mehr.»

«Privat-Prostitution in den eigenen vier Wänden»

Esther Elisabeth Schütz fordert, dass in der Schweiz mehr in Sexualpädagogik investiert wird, um vor Geschlechtskrankheiten zu warnen. «Im Netz wimmelt es heute von Sex-Angeboten. Trotzdem wird über jede Automarke mehr geschrieben als über die Risiken von ungeschütztem Sex.»

Klaus Heer appelliert an die Frauen, wenn nötig entschiedenen Widerstand zu leisten. Die reale Erfahrung sei für die jungen Frauen oft mit Ekel und Schmerz verbunden. «Ich kenne kaum eine Frau, die zum Beispiel Freude daran hat, von ihrem Partner in den Enddarm penetriert zu werden.» Wehrten sie sich nicht, könne es sich bei solchem Sex nur noch um Privat-Prostitution in den eigenen vier Wänden handeln.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor