Dr. Klaus Heer

Welt der Frauen 11/2018
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«Wenn du mich wirklich liebst, dann …»

Emotionale Erpressung kommt in Beziehungen häufig vor und zählt zur psychischen Gewalt. Die Partnerin oder der Partner soll durch Manipulation geformt und kontrolliert werden. Was steckt hinter diesem Muster und wie können Betroffene besser für sich sorgen?

VON SOPHIA LANG
Die Beziehung begann wie ein Märchen und endete in einem Albtraum“, sagt Julia Berger*. Das Kennenlernen war himmlisch, die 31-Jährige hatte zuvor noch nie solche Gefühle für einen Mann gehabt. Er empfand genauso, überhäufte die Bürokauffrau mit Liebesbekundungen, war aufmerksam und schien immer zu wissen, was Berger gerade brauchte. Doch schon bald machte sie in seinen Augen alles falsch. Antwortete sie nicht gleich auf seine SMS-Nachrichten, bombardierte er sie mit Anschuldigungen. „Ich dachte, dir würde unsere Beziehung etwas bedeuten. Da habe ich mich wohl getäuscht.“ Wollte sie alleine oder mit Freundinnen etwas unternehmen, hieß es: „Mach, was du willst! Das tust du ja sowieso immer. Du bist egoistisch.“ Hatte Berger keine Lust auf Sex, schnaubte ihr Partner laut, ignorierte sie oder begann zu sticheln. „Meine Bedürfnisse sind dir egal. Wundere dich nicht, wenn ich sie eines Tages woanders auslebe.“ Tat er ihr einen Gefallen, so verwendete er es später als Druckmittel: „Weißt du noch, als ich dich zu deinem Geschäftsessen begleitet habe? Wenn du mich wirklich liebst, springst du auch einmal über deinen Schatten.“ Immer wieder kam es zum Streit. Obwohl Berger wusste, dass die Behauptungen ihres Freundes nicht stimmten, rechtfertigte sie sich und versuchte, ihm ihre Liebe zu beweisen. Solange sie sich so verhielt, wie er wollte, war er zärtlich und charmant. Wenn nicht, wurde er wütend, demütigte Berger und „bestrafte“ sie, indem er die Beziehung oft aus heiterem Himmel beendete, um kurz darauf die Trennung wieder rückgängig zu machen. Warum sie bei ihm blieb? „Auch wenn ich wütend auf ihn war, fühlte ich mich schuldig. Ich war unsicher, ob ich selbstsüchtig war, wenn ich meinen Freiraum wollte.“

„Gib mir, was ich brauche!“

„Emotionale Manipulation oder Erpressung ist eine weitverbreitete Form von psychischer Gewalt in nahen Beziehungen“, sagt der Schweizer Psychologe und Paartherapeut Klaus Heer. Die Partnerin oder der Partner werde in eine gewünschte Richtung gelenkt, damit sie oder er die Bedürfnisse und Interessen des Manipulators beziehungsweise der Manipulatorin erfüllt. Die Strategien seien vielfältig, eines jedoch sei immer gleich: Kommen die Erpressten der Forderung nicht nach, würden ihnen Liebe und Anerkennung entzogen und es werde Druck erzeugt. Meist würden die Erpressten dann nachgeben. „Manipulative PartnerInnen können auf der einen Seite sehr liebevoll sein, im nächsten Augenblick wendet sich aber das Blatt. Diese Taktik heißt ,Zuckerbrot und Peitsche‘: ,Gibst du mir, wirst du belohnt, wenn nicht, bestrafe ich dich‘“, sagt Psychologin Karin Flenreiss-Frankl. Durch Aussagen wie etwa „Wenn du mich wirklich liebst, dann ...“, „Der Freund meiner Freundin macht auch...“, „Ich habe schon so viel für dich getan, und du ...“ oder „Wenn du das machst, verlasse ich dich“, aber auch durch Blicke und Gesten, die auf das schlechte Gewissen abzielen und Schuldgefühle erzeugen, werde die Partnerin oder der Partner hörig gemacht. Obwohl die Erpressten zwar meist spüren, dass etwas nicht stimmt oder sie sich mit der Forderung des Manipulators oder der Manipulatorin unwohl fühlen, lassen sie es dennoch zu, dass ihre Grenzen überschritten werden. „Bis zu einem gewissen Teil ist jeder Mensch manipulativ, denn er bewirkt mit seinem Tun etwas bei seinem Gegenüber“, sagt Flenreiss-Frankl. Krankhaft oder schädlich werde eine Beziehung dann, wenn eine Partnerin oder ein Partner ständig unter Schuldgefühlen leide und zwischen Richtig und Falsch nicht mehr unterscheiden könne, sagt die Psychologin. Das eigene Ich werde weitgehend aufgegeben, dadurch könne es zu keiner Selbstverwirklichung und Sinngebung im eigenen Leben kommen.

Der Andere erscheint als Täter

„Emotionale Manipulation ist nur möglich, wenn es ein Gegenüber gibt, mit dem ein subtiles Gewaltklima geschaffen werden kann“, sagt Klaus Heer. So würden sowohl die ManipulatorInnen als auch Erpressten ihren Teil zum Drama beitragen und sich sogar brauchen. „Beide fühlen sich als Opfer, jeder auf seine Art und Weise. Der andere ist immer der Täter und für das Leiden verantwortlich“, sagt Heer. Es entstehe ein Teufelskreis, den beide Partner durch ihre Taten und Reaktionen am Laufen hielten. Keine der beiden Seiten suche nach dem eigenen Anteil in der Beziehungsmisere. „Letztlich ist der Gewinn, den beide Partner haben, größer als das Leid. Sie schaffen eine intensive Verbindung, die in anderen Beziehungen nicht oder nicht leicht zu schaffen ist“, sagt Heer. Auch die tatsächliche Motivation hinter den Handlungen und Empfindungen bleibe verborgen. „Die ErpresserInnen möchten ihren PartnerInnen im Grunde signalisieren, dass sie leiden und ihnen etwas fehlt“, sagt Heer. Sie sehnten sich chronisch nach Zuwendung, Anerkennung, Liebe oder auch Unterstützung, so Heer. Anstatt ihre Defizite klar zu kommunizieren, versuchten sie, ihre Bedürfnisse über manipulative Verhaltensweisen einzufordern. „Ich kann Liebe nicht an Bedingungen knüpfen“, sagt Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki. Genau das täten jedoch viele Menschen in Beziehungen.
„Auch die Erpressten sehnen sich eigentlich nach Liebe, machen jedoch ständig die Erfahrung, dass sie diese nicht einfach bekommen. Sie haben das Gefühl, sich Wertschätzung erst verdienen zu müssen“, sagt Wardetzki. Dieses Beziehungsmuster werde in der Kindheit entwickelt. „Ein Kind macht mit allen Familienmitgliedern Beziehungserfahrungen. Später, im Erwachsenenalter, wird meist ein Partner oder eine Partnerin gesucht, mit dem oder der die negativste Erfahrung, also das Drama, noch einmal durchlebt werden kann“, sagt Wardetzki. Er- fahre ein Mensch als Kind, dass ihm ein Elternteil Liebe entzieht, wenn er Forderungen nicht erfüllt oder seine Emotionen und Bedürfnisse auslebt, lerne er, dass er als Person nicht richtig und liebenswert ist. Später im Leben wiederhole er das Muster, suche und treffe PartnerInnen, die ihn ähnlich empfinden lassen. „Die Seele will über den Schmerz hinwegkommen und das früher Erlebte noch einmal positiv erfahren.“ Diese Menschen hätten nicht gelernt, Bedürfnisse zu äußern, Grenzen zu ziehen und diese auch zu verteidigen, sagt Wardetzki. Sie fühlten sich ständig schuldig und für die Gefühle anderer verantwortlich. „Ist ein Mensch nicht mit sich in Kontakt, ist er leicht manipulierbar.“

Fühlen als Schlüssel

„Alle Frauen und Männer in manipulativen Beziehungen, die ich beraten habe, erkannten, dass sie den Kontakt zu sich selbst verloren hatten“, sagt Tanja Grundmann, Buchautorin und Expertin für toxische Beziehungen. Diese Verbindung müsse wiederhergestellt werden. „Die meisten Menschen in ungesunden Partnerschaften fangen eines Tages an, in ihren Biografien zu suchen. Sie denken, wenn sie die Ursache ihres Schmerzes finden, hört er auf. Das funktioniert aber nicht. Nur so, wie der Kummer entstanden ist, löst er sich auch wieder auf. Die Menschen müssen ihn in Echtzeit fühlen“, sagt Grundmann. Jeder Mensch habe eine innere Stimme, die ihm sage, wo seine Grenzen lägen und welche Bedürfnisse er habe. Durch permanenten Stress in der Beziehung würden beide Partner in einen Überlebensmodus schalten. Die Verbindung zur eigenen Gefühlswelt sei abgeschnitten. Wichtig sei es, sich Fragen zu stellen wie: „Was macht mein Partner beziehungsweise meine Partnerin, was kritisiert er oder sie an mir und wie fühle ich mich dabei? Wie reagiere ich?“ „Schuldgefühle bedeuten übersetzt ja ,Ich genüge nicht‘. Die Erpressten sind ständig damit beschäftigt, dem anderen zu zeigen, dass sie reichen und nicht ungerecht sind. Sie machen ihre Daseinsberechtigung vom Gegenüber abhängig. Ein Mensch, der sich selbst nahe ist, wird niemals egoistisch sein“, sagt Grundmann. Auch sie hat früher in einer manipulativen Beziehung gelebt. Als sie anfing, sich selbst zu spüren und ihren Schmerz bewusst wahrzunehmen, packte sie, „ohne mit der Wimper zu zucken“, ihre Sachen und ging. „Eine Woche vorher wäre das noch undenkbar gewesen. Ich kann nur sagen: Nutzt diese Beziehungen, um daran zu wachsen! Kämpft nicht, fühlt: ,Was hat die Beziehung mit mir zu tun?‘“

Selbstverantwortung

„Ich glaube, jeder Mensch muss so lange negative Beziehungserfahrungen machen, bis er sagt: ,Ich mag und kann nicht mehr‘“, sagt Bärbel Wardetzki. Es nutze nichts, dass eine Person in der Theorie weiß, dass sie ihren Partner verlassen sollte – sie müsse es erst wirklich fühlen. „Beziehungsmuster sind hartnäckig, aber sie lassen sich verwandeln. Ich kann nur mich selbst verändern, die PartnerInnen können entscheiden, ob sie mitgehen möchten.“ Seien neue Beziehungsmuster einmal verinnerlicht, würde man auch anderen Menschen begegnen. „Eine ungesunde Beziehung macht krank und unglücklich. Warum wertvolle Lebenszeit mit etwas verschwenden, das wir ändern können?“

Auch Julia Berger wusste eines Morgens plötzlich, dass sie gehen musste. Ihr fiel es wie Schuppen von den Augen: Seit ihrer Kindheit hatte sie ihre Gefühle von anderen Menschen abhängig gemacht. Hatte jemand schlechte Laune, fühlte sie sich da- für verantwortlich und versuchte alles, damit es dem Menschen besser ging. Bekam sie auf eigene Wünsche und Bedürfnisse keine Zustimmung, verwarf sie sie sofort. Plötzlich fühlte sie den Schmerz dahinter. Wie wenig hatte sie sich selbst Raum gegeben! Nach ihrer Trennung entdeckte sie, wer sie eigentlich war, spürte was ihr guttat und was nicht. Heute lebt sie in einer glücklichen und respektvollen Beziehung. „Es ist niemals der Partner oder die Partnerin, der oder die mich aus meiner misslichen Lage befreien kann“, sagt Paartherapeut Klaus Heer. Jeder sei für seine Gefühle selbst verantwortlich. „Ich muss mich jedoch entscheiden: Will ich das Drama und die Macht oder die Liebe? Beides schließt sich gegenseitig aus.“

* Name von der Redaktion geändert
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor