Dr. Klaus Heer

Salis Verlag 2019
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«Von Zeit zu Zeit muss ein Mann ein Update herunterladen»

Klaus Heers Kapitel «Berühren» in Steven Schneiders «Wir Superhelden», Salis Verlag Zürich 2019. Ab S. 197

INTERVIEW: STEVEN SCHNEIDER
Klaus Heer, ich bin ein wenig nervös, denn Sie sind mir voraus. Mehr als 20 Jahre und thematisch sowieso.
Danke für Ihren Schmus. Mein Puls ist auch leicht erhöht. Ihre kleine Nervosität und meine Mini-Tachykardie lassen einen guten Austausch erwarten. Nun, worüber reden wir? Was bewegt und berührt Sie?

Ich möchte gern wissen, ob man als Mann sein Leben in Sachen Sexualität und Sinnlichkeit zufrieden zu Ende leben kann.
Sie meinen: Kann man ein richtiger Mann sein – erotisch und sexuell?

Ja. zum Beispiel mit 75.
Krass, Ihr Beispiel. Aber ich glaube, Mann kann. Hängt indes von dreierlei ab: Was ich unter «Mann» verstehe, was ich «können» zu müssen glaube, und von meinem geliebten Gegenüber. Also von meiner Frau.

Mann kann. Das ist doch schon mal gut. Aber Sie zählen gleich drei Bedingungen auf, die dafür nötig sind. Reden wir über die erste: Was verstehen Sie unter "Mann“?
Wenn ich an all die Männer denke, die ich kenne ... Angefangen bei meinem Göttibuben Josua (19), meinem Bruder Paul (52), über meinen Freund Markus (68), meine vielen Klientenmänner zwischen 21 und 79 bis zu mir selbst (75) – du meine Güte, was für eine unüberschaubare, bunte Vielfalt von Mann! Keiner gleicht dem anderen. Als Spezies Mann stopft man sie alle in dieselbe Schublade. Das ist unzulässig. «Typisch Mann!» Was für eine läppische Frechheit!

Da stimme ich Ihnen zu. Gleichwohl wird es Männer geben, die Zufriedenheit in der Sexualität und Sinnlichkeit immer oder immer wieder erleben werden, andere hingegen nicht. Und damit meine ich nicht, dass der eine eben einen Partner hat und der andere nicht. Über welche Eigenschaften sollte ein Mann verfügen, der also noch im reifen Alter Sinnlichkeit erleben kann?
«Eigenschaften» klingt nach Hardware. Also, welche Begabungen müssten diese Glückspilzmänner ihr eigen nennen. Ich denke eher an Software. Will heissen, was für Programme im Kopf sind dafür verantwortlich, dass meine Männersexualität «zufrieden» sein oder werden kann? Und da ist es ähnlich wie bei jedem Betriebssystem: von Zeit zu Zeit muss Mann ein Update herunterladen. Alte Programme waren mal gut, neigen aber dazu, mit der Zeit zu klemmen. Möchten Sie ein Beispiel?

Sehr gerne!
Das habe ich mir gedacht... Es ist doch ganz einfach. Wenn ein Greis mit 75 im Bett so tut, als wäre er 35, macht er sich und vor allem seine Partnerin unglücklich. Seine ganzen Vorstellungen von Strammstehen und ballistischem Abspritzen werden vermutlich an der Realität zerschellen. Selbst wenn er das alles noch «könnte», gibt auf Seiten seiner Frau vielleicht keinerlei Nachfrage (mehr) nach derlei Dienstleistungen. Die Erektion und ganz besonders die Ejakulation («Orgasmus» ist dafür nicht ganz der korrekte Ausdruck!) sind im Leben vieler, wenn nicht der meisten Männer Prüfungen beinah tragischen Ausmasses.

Stimmt schon, ich schliesse nicht aus, dass ich mit 75 keine gescheite Erektion mehr hinkriege. Dann muss ich entweder auf Viagra oder auf das Update, von dem Sie sprechen, zurückgreifen. Sie empfehlen dem 75-Jährigen bestimmt das Update der Software, nicht der Hardware. Über welche Verbesserungen verfügt dieses Update? 
Moment, nicht so fix! Natürlich werde ich mit dem 75jährigen auf Viagra, Cialis und Levitra zu sprechen kommen. Vielleicht gelüstet es ihn ja, einmal mit derlei Potenzmitteln zu experimentieren. Ins kühle Grab zu sinken, ohne eine solche Erfahrung gemacht zu haben, halte ich für gewagt. Aber Achtung: Eine Erfahrung zu zweit muss es werden! Die Frau muss es auch wollen. Und der Hausarzt muss verschreiben. Finger weg vom Internet.

Abgesehen von einer eventuellen Hardware-Aufrüstung: Welche neuen Software-Programme soll der reifende Mann nun herunterladen?
Welches Programm auch immer in Frage kommt, es soll der Frau neben ihm im Bett endlich den ihr gebührenden Platz einräumen.

Missverstehen wir Männer die Frauen im Bett? 
Nein, wir missachten sie.

Wie kommen Sie darauf?
Viele Frauen berichten, dass sie beim Sex – sofern er überhaupt noch stattfindet – ständig unter Druck stünden. Die Männer können diesen Bericht nicht hören, weil sie ihn als Angriff missverstehen. Noch viel weniger sind sie neugierig genug, um herausfinden zu wollen, worauf ihre Frau beim Sex wirklich «scharf» wäre. Sie, die Männer, haben ihre eigene Schärfe im Kopf. Und zwischen den Beinen. Für etwas anderes ist kaum Platz. Obwohl Männer gern davon schwärmen, das Geilste sei für sie, die Männer, es der Frau richtig zu «besorgen».

Das wichtigste Sexualorgan des Mannes, so haben Sie einmal gesagt, seien deshalb die Ohren.
Hab ich das? Das gilt nicht bloss für den Mann, bitte. Hier und jetzt will ich sagen: die monarchische Regentschaft des erektilen Zentralorgans im ehelichen Doppelbett ist versteinert und verstaubt. Erstaunlicherweise wird sie aber nicht geschleift. Im Gegenteil.

Hoppla, bei Ihnen kommt der Mann aber brutal schlecht weg! Als ob wir alle selbstsüchtige Sexmonster wären, welche die alleinige Erfüllung im Reinrausreinraus fänden. Der eingangs erwähnte Mitte-Siebzig-Mann wird mit dieser Haltung wohl kaum sexuelle und sinnliche Zufriedenheit finden, zumindest nicht mit seiner Ehefrau, denn die dürfte sich lange vorher von einem nur auf seinen Schwanz fixierten Mann getrennt haben.
Nein, wir sind keine schwanzfixierten Sexmonster, natürlich nicht. Sie nicht, ich nicht und die allermeisten anderen Männer auch nicht. Wir Männer kommen bei mir nicht übertrieben schlecht weg; ich sehe nur, beruflich und bei mir selbst, wie steif und unbeweglich unsere Frontallappen sind, weil sie tatsächlich dauernd und zwanghaft die Steifheit zwischen unseren Beinen anpeilen. Dabei sind wir überhaupt nicht brutal. Aber unsere Frauen haben gelernt, unseren triefenden Bernhardinerblick korrekt zu dechiffrieren. Und seien Sie beruhigt, keine Frau kündigt ihre Liebe aus diesem Grund. Es gibt genügend andere Scheidungsgründe.

Das glaube ich. Und überall liest man, dass es den Sex für eine anständig funktionierende Paarbeziehung nicht unbedingt braucht. Dennoch erhoffe ich mir von Ihnen nun einen konkreten Vorschlag, wie ich an eines dieser verflixten Updates komme, die mein Sexleben am Leben halten können. 
Liebe ohne das verführerische sexuelle Sahnehäubchen obendrauf ist machbar, sicher. Aber ich verstehe Sie nur zu gut, wenn Sie sich nach einer attraktiven Alternative umsehen. Die üble Nachricht dazu: Es geht nicht ohne Reden. Miteinander reden, meine ich. Einander hören vor allem. Diese Latte liegt viel höher, als Sie vielleicht ahnen. Die festliche Nachricht: Reden Sie nur und nur solange, wie das Reden Ihnen beiden fast ebenso viel Lust und Wonne bringt wie der Sex, den Sie sich beim Reden vorstellen. Und: fallen Sie nicht zurück in Ihre zweisame Stummheit. – Ist Ihnen das nicht konkret genug? Dann fragen Sie konkret!

Über Sex reden: mir scheint, in der Öffentlichkeit und im Allgemeinen passiere das im erschöpfenden Übermass. Aber in den eigenen vier Wänden? Die Latte liege sehr hoch, sagen Sie. Viele Männer, mich eingeschlossen, dürften die Erfahrung gemacht haben, wie schwierig es ist, im Bett den richtigen Ton und die richtigen Worte zu finden, damit das Gegenüber nicht zu, sondern auf macht. Selbst wenn ich reden will, kann mir das gründlich misslingen. Konkret gefragt: Wie lerne ich die Sprache der sinnlichen Liebe?
Sie haben mir nicht richtig zugehört! Ich sagte eben, dass das einander Hören zentral ist beim Reden. Viel wichtiger als das Reden selbst. Wenn ich zuhöre, zeige ich, dass ich interessiert bin am Anderen. Und wenn ich an ihm interessiert bin, zeige ich ihm das, indem ich ihm Fragen stelle, offene Fragen. Zum Beispiel: «Sag mal, wie geht es dir eigentlich mit mir im Bett?» Und dann muss ich zuhören, zuhören, zuhören.

Jetzt kapiere ich es. Sprachen lernt man durch Zuhören, auf die gleiche Weise lernt man als Mann also auch die Sprache der Sinnlichkeit. Das wiederum dünkt mich – zumindest aufs erste Hören hin – durchaus machbar. Allerdings scheinen Ihre Erfahrungen in Ihrer täglichen Praxis etwas anderes zu erzählen.
Nein, genau das habe ich ja selbst hier in der Praxis gelernt. Wir brauchen nicht den «richtigen Ton und die richtigen Worte zu finden». Es genügt vollauf, den Pfropf aus dem Gehörgang zu klauben und das Herz zu öffnen. Das ist «Tapferkeit vor dem Freund», wie es Ingeborg Bachmann nennt. Das ist männlicher aufrechter Gang.

Hammer! Leuchtet mir ein, was Sie sagen. Aber jetzt bin ich ein wenig durcheinander. Zwischen Missachtung und Verstehen, zwischen gelingender und misslingender Sexualität, steckt also nur ein Ohrpfropfen. Ist es wirklich so einfach?
Wer redet hier von Verstehen? Ich nicht. Ich meine wirklich «nur» Hören. Oder was sich der antike König Salomon einst wünschte: ein hörendes Herz. Versuchen Sie’s mal! Einfach ist das nicht. Wirkt aber Wunder. Sie werden sich wundern, wie wunderbar fremd Ihnen Ihre Frau wird. Fremdgehen ist stets nur eine Armlänge von Ihnen entfernt. Doch Spass beiseite. Wir reden jetzt vom erotischen und sexuellen Reden. Nicht vom Sexliebemachen.

Ich höre meiner Frau zu, ich teile mich ihr mit. Die primären Geschlechtsorgane reden da gar nicht unbedingt mit. Sex, losgelöst vom Orgasmus: Ist das der Weg, in einer langjährigen Beziehung einander sexuell zugetan zu bleiben – oder es wieder zu werden? 
Ihre Frage, auf einen kurzen Nenner gebracht: Was ist guter Sex, wenn man älter wird und alt ist? Sie verführen mich zu Antworten mit Profil und Kontur. Mir ist, ehrlich gesagt, etwas mulmig dabei. Und zwar weil ich mich vor den Momenten fürchte, wo mich später jemand mit Heer-Zitaten konfrontiert, die mich innerlich erröten lassen. Aber hier sind wir ja unter uns... Vielleicht schaffen wir es gemeinsam, eine, zwei oder drei Antworten zu finden. Also, ich fange an: Guter Sex ist fummelfreier Hautkontakt. Mit den Zutaten Nähe, Wärme, Weichheit, Stille, feiner Duft, wohliges Schnurren. Wunschloses Glück.

Was Sie hier als eine Variante von gutem Sex vorschlagen, klingt wie Poesie. Lyrischer Sex. So schön. Nicht nur für Alte. Danke. Hier etwas von mir zum Thema, auf die Gefahr hin, dass es peinlich wird: Guter Sex ist gemeinsames Lachen über ein misslungenes Stellungsexperiment, ist freudiges Zusehen, wie der andere sich hingibt, ist konkurrenzloses Miteinander und sich in der gemeinsamen Nacktheit gegenseitig ein Zuhause geben. Puh, jetzt musste ich mich sehr überwinden.
Passt perfekt! Ich kann Ihren und meinen Definitionsversuch «Was ist guter Sex?» in einem kleinen Hauptsatz zusammenfassen: «Guter Sex ist Sex ohne Sorgen.»

Hm, das ist schön. Der Vollständigkeit halber muss ich Sie nun aber fragen, was schlechter Sex ist. 
Den schlechten Sex erkenne ich als Mann daran, dass ich hinterher entleert und nicht erfüllt bin. Oder abgeschlafft statt entspannt. Noch Fragen?

Ja. Vielleicht denken viele von uns Männern, dass genau das guter Sex ist. Weil uns kein anderes Modell vorschwebt. Weil Pornos von Stechern bevölkert sind und es keine Filme gibt von zwei sorgenfreien Partnern, die eineinhalb Stunden in der Löffelstellung verbringen und dabei Glück empfinden. Vielleicht denken wir, lieber schlechten Sex als gar keinen.
Kann sein, dass der ortsübliche Männersex eigentlich gar nicht richtig schlecht ist, sondern eher armselig. Ich meine mehr arm als selig. Weil nicht wirklich kommunikativ und liebevoll. Nicht bezogen auf den Menschen, den man liebt. Zwischen den Beinen ist das Paar verbunden, nicht aber weiter oben auf Herz-, Augen- und Hirnhöhe. Wie mühsam ist das denn!

Wir strengen uns derart an, dass wir eben kaputt sind danach und dennoch das Gefühl haben, nie genügen zu können.
Sie sagen es. Hier ausnahmsweise ein kleiner Hint: Es gibt Entspannung auch vor dem Orgasmus, nicht erst hinterher. So wie es Essgenuss auch ausserhalb von McDonald gibt. Slow Sex nennt sich das. Einfach googlen. Und Soft Penetration – ein Wunder zu zweit! Der schlaffe Schwanz wohnt in der weichen Vagina. Es geht! Ist zeitaufwendig und darum elysisch. Auch hier: Google weiss mehr.

Elysisch. Himmlischer, paradiesischer Sex. Dass es das gibt, sollte einem doch schon frühzeitig mitgeteilt werden. Wieso gibt es eigentlich an der Berufsschule für Jugendliche nicht das Fach: Liebe und Sinnlichkeit? 
Von derlei Prävention halte ich nicht viel oder noch weniger. Wenn ich sowas mitbekomme, winde ich mich innerlich. Auch bei Filmen wie «Wolke neun» wird mir anders. Die einzige Instanz, die uns Männer wirkungsvoll zu schütteln vermag, ist die Frau, unsere Frau. Sie wird sich die häusliche Prostitution nicht mehr bieten lassen. In zirka 300 Jahren.

Den Schlüssel zum sexuellen Glück für uns Männer halten demnach allein die Frauen in der Hand? Und drehen werden sie diesen erst in 300 Jahren?
Ich denke im Moment an das Paar-Glück, nicht an die Männer-«Befriedigung». In den letzten Tausenden von Jahren haben wir Männer die beiden Gelüste stumm und sträflich verwechselt. Zu Lasten der Frau. Sie hat Nachholbedarf. Der Kurswechsel will Weile haben, wie beim Supertanker, der sehr lange nicht reagiert auf Wende-Impulse von der Kommandobrücke.

Sollten wir den Frauen nicht vorschlagen, sich etwas zu beeilen? Davon hätten alle etwas
Ich bin da weniger optimistisch als Sie. Die Leute machen grundsätzlich nicht das, was man von ihnen möchte. Nicht einmal, was man ihnen vorschlägt. Am wenigsten in den Paarschaften. Aber bitte: Wenn Sie ein so bewusster Mann sind, dass Ihnen so ein Vorschlag auf der Zunge liegt, dann machen Sie den Schwenk doch einfach selber! Hören Sie auf, ein häuslicher Freier zu sein. Und nehmen Sie Kurs auf guten Sex.

Genau. Statt darauf zu warten, dass sich alle um einen herum verändern, verändere ich mich lieber selber, jetzt und gründlich. Aber halt! Wir tun so, als wäre das ganz einfach. Denn was, wenn ich mein Gegenüber im Bett frage, wie es mit mir so sei, und es kommt keine Antwort? Oder ich bekomme eine, aber da ist gar keine Lust mehr vorhanden? Ist das der Moment, in dem ich mich und mein Gegenüber bei Ihnen zur Paartherapie anmelden sollte?
Sie belieben zu scherzen! Nein, das ist eben der Moment, wo Sie Ihr Interesse starten. Sie fragen nach: «Dir ist also die Fleischeslust abhanden gekommen. Erzähl mal, wie ist es dann für dich, mit mir im Bett zu liegen, und ich beginne an dir herumzumachen?» Wetten, Sie werden Antwort bekommen! Dafür brauchen Sie keine Paartherapie. Nur Mut. Ohrencourage.
Wären wir Männer alle mutig, hätten Sie als Paartherapeut womöglich kein Auskommen mehr. Vielleicht blieben in den Bordellen vermehrt die Pritschen leer. Eventuell würde der Pornofilmmarkt einbrechen. Auf einmal würden Paare, die lange Jahre zusammen sind, im Café wieder miteinander flirten… Sie haben selber gesagt, dass die Leute nicht tun, was man ihnen sagt. Vielleicht ist uns Männern der Mut heute völlig abhanden gekommen, falls wir diesen in Beziehungsfragen je hatten. Vielleicht scheuen wir die Antworten zu sehr. Oder male ich jetzt schwarz?
Ich habe mir nie Sorgen gemacht um mein Einkommen oder um die Auslastung der Puffkojen. Viel eher bin ich auf das Nachdenk-Vergnügen aus, das ich jetzt grad mit Ihnen habe. Und dieses Vergnügen ist immer dann am grössten, wenn eine Prise Wagnis beigemischt ist. Dann ist das Ganze nicht schwarz, sondern bunt. Zum Beispiel mutmasse ich ernsthaft, dass es den meisten Männern sexuell saumies geht. Vor allem in langlebigen Beziehungen. Mieser sogar als ihren Frauen, schätze ich. Ist das nicht eine gewagte und darum grellbunte Idee?

Was genau ist bunt daran, wenn es uns Männern sexuell saumies geht?
Dass ich diese Idee habe, Sie Ihnen auf den Tisch lege – in der Hoffnung, dass sie bei Ihnen Staub aufwirbelt, eine glitzerfarbige Staubwolke. Könnte natürlich genauso gut auch umgekehrt laufen.
 
Aha! Provozieren Sie mich gerade?
Nicht wirklich. Es ist eher eine freundliche Einladung von Mann zu Mann. Ich denke mir: die Milliardenumsätze mit Pornografie und Prostitution beweisen die verzweifelte Hilflosigkeit der Männer im Bett. Sie haben kaum eine Ahnung, was ihnen in Sachen Erotik und Sexualität fehlt; sie versteifen sich auf eine untadelige Erektion und steuern zwanghaft und verkrampft die krude Ejakulation an. Beides ist sehr anspruchsvoll zu liefern – just in time. Und mit der Unsicherheit, ob das bei der Frau wirklich willkommen ist.

Sie wollen, dass ich selber nachdenke. Also. Dann denke ich mal darüber nach, dass wir Männer nicht wüssten, was uns in Sachen Erotik und Sexualität fehlt. Wissen Sie, ich habe als junger Mann gut Fussball gespielt, manchmal bis zu sechs Mal in der Woche trainiert. Ich wollte besser werden und ich wusste, dann muss ich eben üben. Üben, üben, üben. Glauben Sie mir, ich hätte damals nichts dagegen gehabt, in Sachen Sex in der gleichen Intensität zu üben. Ging aber nicht. Es wäre mir auch nicht in den Sinn gekommen, dass Fussball und Sex verglichen werden könnten. Und ich kannte auch keinen anderen Mann – in der Mannschaft schon gar nicht, aber auch nicht im Bekanntenkreis oder im beruflichen Umfeld, der mir je genau das gesagt hätte: Übe die Liebe! Nein, man versuchts als Autodidakt. Und wenn sich dann mal eine Gelegenheit fand, war das Gegenüber oftmals auch Autodidaktin. Wie soll man bei eher gelegentlicher Ausübung und unter lauter Autodidakten zum Experten werden? Ich denke, Sie stimmen mir zu, wenn ich sage: Das braucht sehr viel Zeit.

Ich höre Ihnen gern zu, wie Sie erzählen. Die beiden Autodidakten im gleichen Doppelbett – ein erfrischendes Bild! Und wissen Sie was!? Ich bin viel älter als Sie und immer noch Autodidakt, zusammen mit der Frau, die ich liebe! Nix von «Experten», nix von «Altersweisheit, nix von Gewusstwie! Anfänger sind wir, immer wieder Liebesanfänger! Sehr viel Zeit brauchen wir nicht dafür, nein. Die wird uns eh geschenkt, gratis. Was wir brauchen: den Mut zu sagen: «Weisst du, was für ein Anfänger ich bin!? Magst du hören, wie das ist bei mir, ein Anfänger zu sein?» «Anfänger» gefällt mir übrigens besser als «Autodidakt». Was wir erfahren, lernen wir nicht selbst. Sondern gemeinsam.

Sie haben am Anfang unseres Gespräches drei Bedingungen genannt, damit man als Mann möglichst lange gemeinsame Sexualität erfahren kann. Die dritte war das geliebte Gegenüber. In vielen Fällen ist das immer noch die eigene Frau. Haben es Frauen mit den ihnen nachgesagten Fähigkeiten, besser kommunizieren und besser zuhören zu können, generell einfacher, sich sexuell zu entwickeln? Sind die Frauen die besseren Anfänger?

Dass Frauen besser zweisam reden und zuhören können, halte ich für ein haltloses Gerücht, möglicherweise in die Welt gesetzt von selbstgerechten und sprachgewandten weiblichen Wesen. Männer sollten nicht darauf hereinfallen. Es kostet uns den aufrechten Gang. Unsere Männeraufgabe ist es, beherzt hinzuhören, inwiefern wir konkret schwierig sind für unsere Frau. Nicht mehr, nicht weniger. Ab da werden wir nie mehr vorgerechnet bekommen, was für Gefühlskrüppel wir seien.

Und was ist im Bett?
Ja, dort ... Dort sind unsere Frauen wohl näher am realen Geschehen. Näher am Geschehen des Körpers, des Herzens. Sie sind sehr wahrscheinlich weniger versaut im Kopf als wir Männer. Viel weniger versaut. Sie gestatten doch, dass ich ein klein wenig übertreibe, nicht wahr?

Übertreiben Sie ruhig, wenn es der Sache dient, die ich mit Ihnen am Klären bin, nämlich herauszufinden, mit welchen einfachen Mitteln ein Mann ein sexuell zufriedenes Wesen bleiben kann. Aber woher nehmen Sie die Vermutung, dass Frauen im Kopf weniger versaut sind? Ist das eventuell auch nicht mehr als nur ein haltloses Gerücht?
Ist es nicht! Ich weiss das erstens von mir selbst und zweitens von vielen vertrauenswürdigen Zeugnissen, von Männern und auch von betroffenen Frauen. Und drittens aus der Fachliteratur. Soll mir doch niemand weismachen wollen, der exorbitant boomende globale Pornomarkt hinterlasse in den Männergripsen keine Spuren. Wenn es zwischen Männern und Frauen einen einzigen grundlegenden Unterschied bezüglich der Sexualität gibt, dann ist es der Pornokonsum.

Dann wäre jetzt zu klären, warum Männer Pornos konsumieren. Weil wir unsere Versautheit befriedigen wollen? Oder sind es die Pornos, die uns versauen?
Am genauesten kann ich das wohl von mir selbst beschreiben. Wenn ich Porno will, gehe ich auf die Jagd. Die Jagdgründe sind unendlich wie der Kosmos, aber ich jage ganz Spezielles. Etwas Spezielles für meine Augen. Etwas extra für meine persönliche Reizzentrale. 90 bis 95 Prozent des Angebots interessiert mich nicht. Unter den interessanten 5 bis 10 Prozent fahnde ich nach den Bildern, die am präzisesten in mein Reizraster passen. Die Pirsch ist bereits aufregend, aufregender aber die Triebjagd und am erregendsten natürlich der Schuss. Schwer zu sagen, was hier versauter ist – die Pornoclips oder mein Hirn. Beides passt einfach zusammen.

Die Schlange beisst sich in den Schwanz und am Ende steht die Sucht, vielleicht. Vielleicht aber habe ich mich schlicht nie gefragt, wie viel und ob mir Pornographie überhaupt gut tut. Vielleicht bin ich auf der Jagd in eine Falle getreten, aus der ich mich nicht befreien kann und so verwischen sich die Grenzen zwischen dem inszenierten Sex auf dem Bildschirm und dem ernst gemeinten Sex mit der geliebten Person. Vielleicht sollten wir Männer uns noch viel mehr mit Pornographie auseinandersetzen um herauszufinden, wie sehr wir sie für unsere sexuelle Zufriedenheit brauchen.
Gute Frage: Was soll der eigentlich, dieser fiebrige Selbstversorgungsritus und wenn ja, was sind die Spesen? Als meine vorläufige, persönliche Antwort fällt mir als erstes ein, dass ich Pornografie als Nahrungsergänzungsmittel mit den vielen E-Nummern nutze. Natürlich sind sie voll überflüssig, diese künstlichen Chlorophylle und Antioxidantien, ich weiss das. Aber im Hinterkopf sind sie doch irgendwie wirksam gegen Dürre und Rost. Meine ich. Und zweitens befördert das Vorgehen auf biologisch abbaubare Weise das Einschlafen.

Guter Schlaf ist ein grosser Segen, ja. Und was sind nun die Spesen als Selbstversorger?
Wenn Sexualität Liebemachen sein soll – und wer sehnt sich nicht danach? – dann kann einsames Hand an sich legen nicht das Gelbe vom Ei sein. Vielleicht höchstens, wenn die Frau, die ich liebe, mir dabei zuschaut. Aber genau genommen geht unsere Liebe in den Timeout-Modus, wenn ich auf Handbetrieb umschalte. Kann auch gut sein. Wer will und kann schon fünfzig Jahre radikal treu sein?

So viel ich weiss gibt es Männer, die diese radikale Treue zu leben versuchen. Kein Sex mit sich selbst oder sonstwem, sondern nur, und wirklich nur, mit der Angetrauten, bis dass der Tod sie scheidet. Das ist deren Privatsache. In einer Paarbeziehung haben, so sehe ich das, aber beide einen Raum, zu dem der andere keinen Zutritt hat. Fantasien finden sich dort, kleine Geheimnisse vielleicht, Erinnerungen, die man mit niemandem teilen will, auch nicht mit dem geliebten Gegenüber. 
Ich habe mir inzwischen abgewöhnt, meine Sicht auf diese Themen zu verfestigen. Radikale Treue kann für Menschen ebenso inspirierend und verbindend sein wie die Wahrung der Privatssphäre bei vollem Liebesengagement. Jedes Paar lebt und entfaltet seinen eigenen Liebesstil. Jedenfalls solange es noch munter ist. Und ganz sicher muss jedes Paar, das dauerhaft und wetterfest zusammengehört, im Laufe seiner Liebesgeschichte mit Rissen, Brüchen und Abstürzen rechnen. Egal ob es damit gerechnet hat oder nicht.

Eine Geschichte ohne Risse ist sterbenslangweilig. Da gäbe es schnell gar nichts mehr zu erzählen. Gehe ich richtig in der Annahme, dass diese Risse, Brüche und Abstürze das Paar weiterbringen können, wenn sich die beiden weiterhin füreinander interessieren? Wenn sie einander zuhören und miteinander sprechen? Die gleichen Elemente also, welche die Sexualität eines Paares lange, vielleicht bis zum Ende, lebendig halten können?
Seltsam... Wenn ich Sie so reden höre, sehe ich mich andauernd zustimmend nicken. Und sobald Sie fertig geredet und ich zu Ende genickt habe, kommt bei mir raus: Hä? Was? So hab ich das aber nicht gemeint! Nicht ganz so. So als bräuchten wir bloss zu reden und zuzuhören und dann gelänge es schon irgendwie, unsere Probleme zu lösen und dann könnten wir es gut haben miteinander bis zum Ende unserer Tage. Ausserhalb und innerhalb unseres Ehekahns. Und wenn wir nicht gestorben sind...

Ich stelle mir vor, wie Ihr Kopf von der von-oben-nach-unten-Bewegung in eine holprige Schräge gerät und dann in geschmeidiges rechts-links-rechts-usw. übergeht. Habe ich Ihnen denn nicht richtig zugehört? Ich habe mich bemüht, aber es ist nicht so einfach mit dem Zuhören. Kommunikation wird beim Zuhörer gemacht. Was Sie sagen und was Sie meinen, muss nicht das sein, was ich höre und was ich dann meine. Oder was meinen Sie?
Ich meinte nicht, dass Sie mir nicht zugehört hätten, oder nicht richtig. Nein, wir haben hier ein Superbeispiel dafür, wie kreativ unser Hören ist. Wenn ich das aus Ihrem Munde höre, was ich vorher ziemlich genau so gesagt hatte, dann blitzt bei mir auf: Shit, ich bin ja gar nicht einverstanden mit mir! Ich habe einen romantischen Paarvaliumkram erzählt. Und bitte, so etwas Kreatives ist nur möglich, wenn Sie mir zuhören und ich Ihnen. Oder, wenn ich wirklich wissen will, was meine Frau meint. – Ehmm, was war die Frage?

Die Frage ist immer noch die gleiche: Ich möchte gern wissen, wie man als Mann sein Leben sexuell zufrieden zu Ende leben kann.
Ja, genau. Da ist sie wieder, die Verlockung. Viele Paare möchten unbedingt wissen, ob es nicht ein geheimes Rezept gibt, wie sie alles richtig machen könnten, damit es gut wird miteinander. Und ich bin versucht, ihnen eine «hilfreiche» Auskunft zu geben. Stellen Sie sich vor: selbst nach 44 Jahren «Berufserfahrung» kann ich dieser Versuchung manchmal nicht widerstehen – zum Nachteil der fragenden Paare natürlich. Das ist peinlich. Immerhin sind nicht alle meine möglichen Antworten gleich blöd.

Bei unserem Telefonat vor diesem Gespräch haben Sie mir gesagt, ich solle mir meine Illusionen abschminken und viel Freundliches hätten Sie auch nicht zu sagen. Doch von den bisherigen Antworten war keine blöd oder bös, finde ich. Sie stellen nun Antworten in Aussicht, die Sie selber, wenn ich Sie richtig verstehe, weniger blöd als andere empfinden. Da bin ich mal gespannt. Vielleicht reicht es zum Schluss doch noch zu einem Rezeptvorschlag.
In der Tat habe ich, während ich eben auf Ihren Gesprächsbeitrag wartete, in aller Eile ein behelfsmässiges Olympisches Siegerpodestchen meiner unblöden Ideen gezimmert. Auf Platz 3 steht der einfache Hauptsatz: «Erwartung ist ein Synonym für Problem.»

Puh, sich von Erwartungen frei zu machen, ist harte Arbeit. Darf ich für den Gewinn der Silbermedaille auf etwas weniger Schwieriges hoffen?
Ach wo! Frei zu werden, frei von den lästigen, ausschliesslich hausgemachten Problemen, macht doch Freud. Freud zu zweit sogar! Und Platz 2 auf dem Treppchen ist angelsächsisch besetzt und geht an uns Männer als Sexpartner: «Lady first!»

Der Gentleman im Bett…. Vor 15 Jahren kam ein Buch auf den Markt, in dem ein deutscher Journalist den Gentleman als jemand bezeichnete, der über eine hohe Lebenskunst verfüge, die sich durch Reflexion und Erfahrung, durch stolze Einsamkeit und soziale Kultur definiere. Die Welt wäre definitiv eine bessere, wären wir alle Gentlemen, oder? Und wie holt man sich die Lorbeeren auf dem obersten Treppchen?
Mein «Lady first» stammt weniger von einem netten und abgeklärten Gentleman, als eher von einem ganzen Mann, der weiss, dass er im Bett des 21. Jahrhunderts Platz für 2 (zwei) liebende Menschen schaffen muss. Und dass das für ihn nicht ganz einfach ist. – Und hier mein unstrittiger Platz 1: «Unsere Liebe ist genauso sterblich wie du und ich.»

Mann, Klaus Heer, ich wollte schon die Hymne spielen, aber das verstehe ich nun leider nicht ...
Ich auch nicht. Höchstens dies: Die Ewige Liebe gibt es nicht. Unsere Zeit ist knapp, auch unsere Zeit zu zweit. Zeit ist der nicht erneuerbare Rohstoff der Liebe. Er wird jeden Tag weniger. Wenn ich das verstünde, richtig begriffe – leibhaftig, herzhaft, hellwach – dann wüsste ich aus diesem Rohstoff kostbaren Wertstoff zu machen. Zusammen mit dem Menschen, den ich liebe.

Je länger ich über Ihre Antwort nachdenke, desto klarer wird mir, wie man es auf dem Treppchen nach oben schafft – indem man ernsthaft versucht, in neue Tiefen vorzustossen.
Das war der Nagel auf unsere Köpfe. Danke, lieber Steven Schneider.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor