Dr. Klaus Heer

Neue Zürcher Zeitung vom 1. Juni 2019
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«Das Gelingen der Liebe hängt niemals von Äusserlichkeiten ab.»

Im Alltag gehen sie sich manchmal auf die Nerven. In der Wand hat es noch niemals Streit oder Diskussionen gegeben: Die Profikletterer Barbara Zangerl und Jacopo Larcher sind ein Paar – im Leben und beim Bergsteigen«völlig neues biografisches Kapitel» auf, sagt Paar-Therapeut Klaus Heer.

VON KARIN STEINBACH TARNUTZER
Wenn der Kletterpartner gleichzeitig der Lebenspartner ist, bietet das einem Paar grosse Chancen. Anderseits birgt die Konstellation auch Konfliktpotenzial – erst recht, wenn beide Partner das Bergsteigen zum Beruf gemacht haben.

Ihre erste gemeinsame Gebirgstour lief gründlich schief. Wenn die Tiroler Profikletterin Barbara Zangerl und ihr italienischer Lebenspartner Jacopo Larcher, ebenfalls hauptberuflich Kletterer, davon erzählen, können sie sich vor Lachen kaum halten. In der Route «Moderne Zeiten» durch die 800 Meter hohe Marmolada-Südwand in den Dolomiten verstiegen sie sich in einer der letzten Seillängen. Vergeblich suchten sie nach dem Weiterweg und mussten schliesslich im Dunkeln an rostigen Schlaghaken abseilen und Quergänge zurückklettern – zum Biwakieren war es zu kalt. Immer wieder fielen sie in Sekundenschlaf. Erst nach 25 Stunden erreichten sie völlig erschöpft den Wandfuss.

«Ein zähes Date», sagt Zangerl. «Aber eigentlich funktionierten wir schon da ziemlich gut zusammen.» Inzwischen sind sie seit sechs Jahren ein Paar, und noch immer nehmen sie sich gemeinsam grosse alpine Projekte vor, etwa im vergangenen August die schwierigste Freikletterroute durch die Eiger-Nordwand. Auch wenn sie sich im Alltag manchmal auf die Nerven gingen, sagt die 31-Jährige, habe es in der Wand noch niemals Streit oder Diskussionen gegeben, dafür sei man viel zu fokussiert. «Vertrauen in den anderen ist das Wichtigste, negative Gedanken haben da keinen Platz.»

Test für die Beziehung

Nicht immer läuft es so problemlos, wenn der Kletterpartner gleichzeitig der Lebenspartner ist. Diese Erfahrung machen auch Freizeitsportler: In Stresssituationen, wie sie im Alpinismus öfter auftreten, kommen unterschwellig vorhandene Emotionen an die Oberfläche – umso ungefilterter, je näher man sich steht. Gemeinsame Unternehmungen, bei denen sich ein Partner oder beide an der Grenze ihres Könnens bewegen, können so ein regelrechter Test für die Beziehung werden.

Für Berufsbergsteiger, deren Marktwert an der Publizität und der Präsenz in den sozialen Netzwerken gemessen wird, stellt die gegenseitige Konkurrenz eine zusätzliche Belastung dar. Bei der deutschen Profialpinistin Ines Papert scheiterte die Beziehung zum Vater ihres Sohnes unter anderem daran, dass dieser nur schlecht mit den Erfolgen der vierfachen Eiskletter-Weltmeisterin umgehen konnte. Später tat sie sich mit einem Nichtalpinisten zusammen und ging so der Problematik aus dem Weg.

Dass Nina Caprez und Cédric Lachat sich trennten, nachdem sie fast zehn Jahre das Schweizer Kletterpaar schlechthin gewesen waren, hatte einen anderen Grund. Caprez konnte sich mit Lachats Leistungsorientierung immer weniger identifizieren, ihr war wichtig, im Moment zu leben: «Die Richtung, in die der Spitzensport geht, gefiel mir nicht. Ich wollte auf mich hören und meinen eigenen Weg finden.»

Gegenseitiges Anspornen

Stephan Siegrist und Roger Schäli, die ebenfalls zur Riege der Schweizer Berufsbergsteiger gehören, haben beide Partnerinnen, die selbst klettern und Verständnis für ihre Leidenschaft aufbringen, aber den Sport nicht auf ihrem Niveau betreiben. Für Siegrist ist das Zeitmanagement für Familie und Beruf die grösste Herausforderung. «Wenn wir etwas in den Bergen unternehmen, geht es nicht um Training, sondern darum, gemeinsam Zeit zu verbringen», sagt er. Schäli wiederum empfindet das Klettern mit seiner Freundin als gegenseitiges Anspornen: «Eine Partnerin zu haben, die nicht klettert, stelle ich mir langfristig schwierig vor.»

Ines Papert lebt heute mit dem 14 Jahre jüngeren slowenischen Profibergsteiger Luka Lindič zusammen. Sie schätzt das motivierende gemeinsame Training, zieht zwischendurch aber auch bewusst mit anderen Seilpartnern los. Als Nachteil einer solchen Bergsteigerbeziehung nennt sie die Angst um Luka, sowohl wenn sie dabei ist, als auch wenn er ohne sie eine Tour unternimmt. Und ihr Erfolgsgeheimnis? Luka und sie sähen sich als gleichwertige Teamkollegen, je nach Stärken und Schwächen komme mal der eine, mal der andere mehr zum Einsatz. «Grundsätzlich gelingt es uns recht gut, am Berg unsere Gefühle zu sortieren, auch mal die Beziehung am Einstieg zu lassen und als normale Kletterfreunde zu agieren.»


Konflikte in Partnerschaften sind sein tägliches Brot: Der promovierte Psychologe Klaus Heer berät ausschliesslich Paare. Liebende, die gemeinsam dem Alpinismus verfallen seien, hätten beneidenswerte Chancen, findet der 75-Jährige

Alpinismus scheint nicht nur risiko-, sondern auch konfliktträchtig zu sein. Klaus Heer, wie lassen sich Auseinandersetzungen um das Bergsteigen innerhalb einer Beziehung vermeiden?
Wer versucht, derlei Konflikte zu verhindern, wird genau darüber stolpern. Solche Auseinandersetzungen vermeidet man besser nicht. Sie sind die Herausforderung, die für Lebendigkeit in der Liebe sorgt. Ideal ist, wenn sich beide Partner im aufrechten Gang begegnen – egal, ob es angenehm ist oder schwierig wird. Und zwar sowohl in den Bergen als auch im Flachland.

Gibt es zwangsläufig Probleme, wenn ein Partner intensiv seiner Leidenschaft für den Alpinismus nachgeht und der andere daran nicht im selben Mass teilhat?
In einer Partnerschaft sind sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede bedeutsam. Beides kann verbinden und entzweien. Wirklich schicksalhaft für jede Beziehung ist indes letztlich der Umgang mit den Differenzen. Wer nicht fähig ist, die paarinternen Gegensätze zu erkennen und zu akzeptieren, wird scheitern.

Auch ein unterschiedliches Leistungsniveau kann Partner vor Probleme stellen: Der Stärkere fühlt sich gebremst, der Schwächere verliert den Spass daran.
Dass beide Partner am Berg gleich stark sind, ist wohl ein seltener Glücksfall. Die zu erwartende Realität ist eher, dass die Liebe den beiden nahelegt, rücksichtsvoll und geschmeidig, grosszügig und unterstützend zu sein. Der Kompromiss hat ja vielfach einen schlechten Ruf. In Wirklichkeit ist er aber nichts anderes als eine Liebesform. Lieben heisst einander entgegenkommen. Die beiden unterschiedlich starken Alpinisten könnten sich ausserdem auch je einer Gruppe anschliessen, die ihrem Leistungsniveau entspricht.

Finden sich professionelle Bergsteiger als Paar zusammen, stehen sie im Grunde in Konkurrenz zueinander, etwa bezüglich der Medienaufmerksamkeit.
Macht und Gleichgewicht sind in jeder Partnerschaft grosse Themen, auch wenn das viele Paare von sich weisen. Das Abgleiten in den Machtkampfsumpf und die Rivalitätsfalle empfinden die meisten Paare als extrem aufreibend, oft sogar als ausweglos.

Wie können sich die Partner in einer solchen Situation so unterstützen, dass sie sich gegenseitig zu Höchstleistungen motivieren, anstatt sich zu beneiden?
Ohne Reden geht es nicht. Gemeinsam finden die beiden heraus, wie sie ihre Synergien mobilisieren können. Sie werden feststellen, dass sich sogar schwierige Gefühle wie Neid, Rivalität und Unzulänglichkeit als gemeinsamer Leistungsanreiz einsetzen lassen – vorausgesetzt, die Liebespartner verstecken sich nicht voreinander oder nehmen diese Gefühle nicht zum Anlass, sich zu bekämpfen.

Funktioniert eine Partnerschaft auf lange Sicht besser, wenn beide im selben Bereich – sei es sportlich oder beruflich – aktiv sind, oder ist es von Vorteil, wenn jeder «seinen eigenen Garten bestellt»?
Gemeinsame Schnittmengen können Fluch oder Segen in der Liebe sein, genauso wie strikt getrennte Tätigkeitsfelder. Das Gelingen der Liebe hängt niemals von Äusserlichkeiten ab. Ein liebendes Paar, das gemeinsam dem Alpinismus verfallen ist, hat beneidenswerte Chancen. Die beiden können einander unterstützen, einen lebendigen Austausch pflegen, ihre Unterschiedlichkeit erkennen und als Bereicherung verstehen lernen. Das alles ist aber immer mit grossem emotionalem Aufwand verbunden.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor