Dr. Klaus Heer

Bärnerbär vom 19. Februar 2019
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«Der Geschlechtsakt ist ein Kunststück – nicht erst im Alter»

Ja, Sex wird im Alter weniger wichtig. Doch ein bisschen unanständig darfs schon sein. Paartherapeut Klaus Heer gibt Tipps für erfüllte Liebe im Alter.

INTERVIEW: YVES SCHOTT
Klaus Heer, liebt es sich im Alter anders als mit 20 oder 40?
Wer heute richtig alt ist – wie ich zum Beispiel – der ist ja ein Alt-68er. Der wilde 68er-Dunstkreis hat sich inzwischen längst verflüchtigt und das Leben dieser Senioren neigt sich dem Ende zu. Für die Alten ist es anspruchsvoll, beides gleichzeitig loslassen zu müssen, die sprichwörtliche erotische 68er-Leichtigkeit und die eigene Lebenskraft.

Das müssen Sie mir erklären.
Alt-68er und überdies steinalt zu sein, birgt ein hohes depressives Enttäuschungspotenzial. An allen Ecken und Enden machen sich Schäden, Mängel und Verluste bemerkbar. Auch in der Liebe. Im Beziehungsalltag. Im Bett am deutlichsten. Höchstens Erleuchtete bleiben da gelassen.

Dabei möchten doch alle jungen Verliebten miteinander alt werden …
Ja, unbedingt! Das ist eine beliebte Formel, mit der man gerne seine hormonelle und erotische Begeisterung füreinander beschwört. Wüsste man wirklich, was man da sagt, würde man nicht so reden.

Die bejahrte Realität sieht anders aus?
Zwei Leute, die lange genug zusammenbleiben, mutieren zwangsläufig vom Liebespaar zu einer Vernunftehe. Im besten Fall. Wenn sie Glück haben miteinander, werden sie gute Freunde.

Kann denn ein 75-Jähriger nicht mehr die gleichen Schmetterlinge im Bauch empfinden wie ein junger Erwachsener?
Ach, 75 Jahre alte Eingeweide sind nicht mehr ganz so zart und sensibel wie vor einem halben Jahrhundert! Besonders wenn die Paarschaft schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat. Und abgesehen davon ist es gut zu wissen, dass die berüchtigten Schmetterlinge ein durchschnittliches Verfallsdatum von ein paar wenigen Monaten haben.

Fakt ist aber auch: Ältere Menschen haben weniger Sex, was schon nur physisch erklärbar ist. Oder ist das nur ein Klischee? Salopp gefragt: Wie wild treiben es die Alten?
«Es wild treiben …» – was für ein rührender pornografischer Jargon! Nicht einmal in Porno-Clips spielen Alte mit wilden Trieben mit. Das will niemand sehen.

Formulieren wir es anders: Im Alter werden Menschen andere Dinge wie Zuneigung, beispielsweise Kuscheln, oder gemeinsame Hobbys wichtiger als der Geschlechtsakt an sich.
Der «Geschlechtsakt» ist ein regelrechtes Kunststück. Nicht erst im Alter. Alt sein bringt zusätzlich gern jede Menge Müdigkeit mit sich. Wer will es denn noch auf sich nehmen, all die kniffligen Bedingungen zu erfüllen, um einen fortpflanzungstüchtigen «Akt» schaffen. Als Grosseltern schon gar nicht mehr, bitte!

Dann geht also der Sex mit der AHV ebenfalls in Pension?
Nein. Mindestens die digital junggebliebenen Alten können vor dem Laptop-Monitor sexuell hantieren. Jedenfalls solange sie nicht Prostataoperiert sind. Sicher seit zwanzig Jahren sind die Pensionierten diesbezüglich krass verwöhnt. Die Internet-Pornografie bietet ihnen ein unermessliches Reiz-Universum. Tag und Nacht. Gratis.

Ist das alles? Sonst bleibt den Alten nichts? Keine herzwarme Erotik, keine fleischliche Sexualität?
Doch, natürlich. Mit Porno-Fastfood aus dem Grosslabor allein lebt es sich nicht wirklich gut. Da fehlen Wärme, Weichheit und wohlige Wonne. Sie haben das eben Kuscheln genannt. Ich sage dem gern absichtlose, fummelfreie Berührung …

… und meinen damit allen Ernstes ein erfülltes Sexualleben im Alter?
Ich stelle beinahe jeden Tag fest, dass Paare aller Altersstufen genau diesen zarten Hautkontakt sträflich vernachlässigen. Und warum? Weil sie sich unter Sex eigentlich nur Schleimhaut-Reibung vorstellen können.

Und dieser Sex fällt dann im Alter häufig aus. Weil man zu alt, zu krank oder …
… zu zerstritten, zu vergrämt, zu resigniert ist. Das ist doch himmeltraurig, wenn sich zwei alte Leute so im Stich und einander in ihrer Einsamkeit verkommen lassen! Ohne genitalen Sex kann man gut leben. Aber nicht ohne kuschelige Berührung.

Das genügt für einen erfüllten letzten, gemeinsamen Lebensabschnitt?
Oh, etwas mehr Liebeskomfort wäre den zwei Alten schon zu gönnen! Zum Beispiel könnten sie einander jeden Tag Anteil nehmen lassen an ihrem Leben. Oder regelmässig im nahen Wald spazieren gehen. Hand in Hand sogar. Oder auch nur fernsehen, nebeneinander auf dem Sofa. Ebenfalls mit einer harmlosen Berührung. Derlei kleine Gesten können die Liebe warm halten.
Und was ist mit den weniger harmlosen Berührungen?
Ja, klar! Wenn die beiden beides sind: feinfühlig und mutig! Es braucht ja nicht gleich das Vollprogramm zu sein, das man früher, in knackigen Jahren, so genossen hat. Aber ein klein wenig unanständig könnte doch immer noch – oder wieder – schön sein, nicht wahr?!

Trennen sich eigentlich ältere Menschen seltener als ihre jüngeren Zeitgenossen?
Tatsächlich gehen langjährige Paare deutlich öfter auseinander als noch vor wenigen Jahren. Offenbar gestehen diese Alten heute eher ein, dass ihre Liebe nicht nur eingeschlafen, sondern richtig tot ist. Die Liebe ist eben genauso sterblich wie wir selbst.

Eine schmerzliche Erkenntnis nach einem jahrzehntelangen Paarleben unter einem Dach!
Ja, genau. Sich aus verkrusteten Gewohnheiten und Abhängigkeiten zu lösen, macht drückenden Liebeskummer. Und Angst vor einer ungewissen Zukunft. Alte Leute, die ihr Paar-Elend verbissen und verbittert aussitzen bis zum Krematorium, sind wahrlich kein erhebender Anblick.

Gibt es eine Alternative?
Ja, sicher! Zusammen alt werden – und alt sein, das bedeutet doch, dass man nach und nach vieles loslässt: die Haupthaare, die Sehkraft, die Beweglichkeit, einen Teil des Gedächtnisses. Genauso könnte man sich auch trennen von den vielen miesen Erfahrungen, die man miteinander gemacht hat. So wie man drückenden Ballast entsorgt. Ent-sorgen – was für ein wundersames Wort!

Streiten sich ältere Menschen auch öfter?
Vielleicht nicht öfter, aber sicher anders. Betagten Paaren machen Reibungsverluste zu schaffen: länger auf engem Raum zusammenzuleben, als einem gut tut, das nervt. Was aber oft am meisten drückt, ist die Summe der Enttäuschungen, die sich im Laufe der Paarbiografie angehäuft haben. Der stumpfe Stunk drückt aus, dass man sich nicht vergeben kann oder will. Oder noch nicht.

Heisst das, ältere Paar-Menschen sind einsam?
Zu zweit einsam, ja. Oft. Viele haben in früheren Jahren nicht gelernt, ihr Inneres füreinander zugänglich zu machen. So bleiben sie voreinander verschlossen, wenn es schwer und schwierig wird. Krankheit, Depression, Resignation lasten dann manchmal sehr.

Und wenn einer der Partner stirbt?
Ja, das gehört häufig zu den schwersten Schicksalsschlägen überhaupt. Sogar dann, wenn die beiden vorher längst den Faden zueinander verloren hatten. Der überlebende Partner realisiert oft erst nach dem Tod des anderen, wie fest und zäh man verbunden war.

Wer alt und einsam ist, bleibt häufig einsam. Oder sagen wir zumindest: alleine. Korrekt?
Nein. Eher selbstgewählter Lebensstil. Nicht jeder alte Mensch braucht gleich viel Kontakt und gleich viel Alleinsein. Und von aussen betrachtet sieht manches Alleinsein wie Einsamkeit aus. Sozialer Rückzug ist aber durchaus auch ein natürlicher Prozess, der gegen Ende des Lebens zu erwarten ist.

Welche Kontaktmöglichkeiten haben Pensionierte, wenn sie nicht mehr an eine WG-Party, in den Ausgang gehen oder sich mit irgendwelchen Kuppler-Apps behelfen wollen?
Auch für die älteren Paarungswilligen waren die Optionen noch nie so vielfältig wie heute. Ohne dass man einen Schritt vor die Haustüre macht oder sich einen Laptop unter den Nagel reisst, wird es aber nicht gehen: Man wird die vorzeitige ewige Ruhe haben.

Ich bin 70, getrennt, geschieden oder verwitwet. Was kann ich tun, um a) glücklich zu sein, oder b) mich alleine glücklich zu fühlen?
Mein Gott, was für eine Frage! Da kommt mir nichts in den Sinn, was auf diesen beiden Zeitungsseiten Platz hätte. Ausser der bissige George Bernard Shaw: «Im Alter wird man alt und sonst gar nichts.»
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor