Dr. Klaus Heer

Psychologie in Österreich 5/2013
Themenschwerpunkt Paarbeziehungen
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Gibt es alltagstaugliches Küssen?

KLAUS HEER
Der Kuss ist kein beliebtes und geläufiges Thema. In Paartherapeutischen Praxen nicht, noch weniger in den privaten vier Wänden. Im Unterschied zur Sexualität ist das Sujet nicht griffig, eher diffus und peinlich. Das hängt wohl damit zusammen, dass der Kuss speziell überfrachtet ist mit leidenschaftlichen Bildern, denen gestandene Paare huldigen, ohne es zu merken. Dann scheitern Mann und Frau an ihrem eigenen verschwommenen Wunschdenken und jene, die sie beraten, mit ihnen. Gibt es einen realistischen Ausweg aus diesem Illusionssumpf? Was ist, nüchtern besehen, ein guter Kuss für den Paaralltag?
Stellen Sie sich vor: Sie stehen direkt vor Ihrem langjährigen Lebenspartner, Sie drücken ihn an sich und küssen ihn. Und er Sie. Sagen wir, auf den Mund.

Und Ihre beiden Köpfe sind je in ein festes Barchent-Bettlaken gehüllt. Sie sehen einander also nicht. Sie berühren sich nicht wirklich. Riechen können Sie sich nicht. Schmecken auch nicht. Reden ist so gut wie unmöglich. Die Nähe hat sich in den Jahren unter dem selben Dach in Reibung verwandelt. Kontakt in Bedrängnis.

Genau diesen Kontaktausfall hat der belgische Surrealist René Magritte 1928 in seinem Bild «Die Liebenden»1) dargestellt. Und ich erlebe ihn jeden Tag bei meiner Arbeit mit Paaren, die nicht weiterwissen.

Viele von ihnen beschreiben ihre Beziehungsnot als grosse Einsamkeit zu zweit. Die gesprächsweise Verständigung sei zusammengebrochen, weil sich beide nicht verstanden fühlten, sagen sie. Je nach Temperament der zwei würden sie laut miteinander oder sie verstummten ganz.

Sie beklagen die klimatische Trostlosigkeit in der Beziehung. Die Zusammenlebensfreude sei verblasst; es gebe, wenn sie zu zweit seien, nicht mehr viel zu lachen. Ihre Erotik sei verlöscht, sie vermissten Nähe und Zärtlichkeit und Sexualität, sagen sie. Ihr letzter Geschlechtsverkehr liege Monate oder Jahre zurück. Leider. Auch wenn sie nicht aufgehört hätten, im gleichen Bettzeug zu schlafen.2)

Was mich erstaunt: Noch nie hat sich ein Paar bei mir darüber beklagt, dass ihm der Kuss verloren gegangen sei. Niemandem scheint das Küssen zu fehlen. Umso mehr das Liebemachen. Ich kann das kaum fassen. Denn das Welken des Kusses ist ein deutliches Alarmsignal.

Der Niedergang des erotischen Lebens zu zweit beginnt bei den Mündern.

Die «Liebenden» auf Magrittes Bild küssen sich doch. Sie tun so, als wäre alles in Ordnung. Sie sind sich nahe und drücken die Lippen aufeinander. Doch die Berührung, nach der sich beide sehnen, ist nicht mehr möglich. Sie können einander nicht sehen. Sie sehen nicht, dass sie blind sind. Blind füreinander. Eine textile Isolierfolie verhindert alles.

Den Paaren selbst fällt das offensichtlich nicht auf. Warum übersehen sie das Signal, das ihnen so deutlich den drohenden Intimitätsverlust anzeigt? Wie kommt es, dass sie zwar gern ihre abfallende Kopulationsfrequenz zum Thema von Zoff und Zank machen, aber nie darüber reden, wie unendlich lange es her ist, dass sie sich das letzte Mal nass und innig geküsst haben?

Der Kuss ist ja eigentlich gar nicht aus ihrem Paarleben verschwunden. Er hat entschieden überlebt in seiner harmlosen Form als deutsches «Küsschen», als österreichisches «Bussi», als «Müntschi» in der Schweizer Alpenregion. Er kommt rituell zum Zug, wenn einer von beiden das Haus verlässt oder wieder dorthin zurückkehrt. Manchmal als letzte eheliche Amtshandlung des Tages beim Schlafengehen. Und eigenartigerweise auch wenn Besuch da ist und man mit dem ersten Glas Rotwein anstösst. Nicht zu vergessen in der Neujahrsnacht, wenn’s 00:00:00 Uhr ist. Das alles muss sein. Es fällt höchstens ausnahmsweise aus, wenn die Lage an der Beziehungsfront extrem prekär ist. Den allermeisten Paaren gelingt es aber, den Kurzritus in nützlicher Frist wieder einzurichten. Sie fürchten nämlich, dass auch noch der letzte körperliche Kontaktfaden ganz abreissen könnte.

Diese Angst ist wahrscheinlich wirklich berechtigt. Wie soll eine Liebesgeschichte am Leben bleiben, aus der alle Berührung gewichen ist? Und in der Tat scheint es nahezu unmöglich, im Inneren einer Zweisamkeit ohne jede Stallwärme neue Hitze zu entfachen. Hingegen lässt sich vielleicht aus winzigen Glutresten unter dicken Schichten von Asche noch Feuer hervorlocken, finde ich. Nicht etwa weil ich ein effizienter Paartherapeut wäre. Nein, am ehesten wenn so etwas wie eine mächtige Naturgewalt die Beziehung erschüttert. Zum Beispiel der gänzlich unerwartete Einbruch einer Drittperson in den Beziehungs-Sperrbezirk.

Es gibt einen zweiten Grund, warum sich der Liebes-Kuss beinah unbemerkt aus dem intimen Paarleben verdrückt. Gewöhnlich ist die Verliebtheit nach ein paar Monaten vorbei. Die hinreissende Körperlichkeit verebbt viel schneller als einem lieb sein kann. Dies ist der erste schmerzliche Verlust, den man in seiner Liebesgeschichte hinnehmen muss. Er betrifft die aufwühlende Nähe auf Augen- und auf Mundhöhe. Weiter unten, zwischen den Beinen, bleibt das Feuer gewöhnlich länger erhalten, wenn es vorübergehend nicht sogar noch zunimmt.

Genitale Sexualität ist den meisten Leuten ein Herzensanliegen. Solange sie «klappt» – was für ein entlarvender Technobegriff! – machen erotische Erosionserscheinungen nicht von sich reden. Sie sind kein Paarthema. Hauptsache steif und nass. Hauptsache «kommen», beide. Und Hauptsache «Hauptsache».

Das funktioniert eine Weile, oft erstaunlich lange. Zum Beispiel weil einer von beiden dem anderen «entgegenkommt». Weil er sich beinah widerwillig in die Lust hineinschubsen lässt. Weil er sich die verdriessliche Miene des anderen am nächsten Tag nicht leisten will. Oder weil sich beide sicher sind, dass eine Ehe ohne reproduktive Gebärden keine Ehe mehr ist.

Wenn aber diese «Hauptsache» absackt in die Seltenheit oder ganz schwindet, ist das meist begleitet von Klagen und Anklagen, von Abwehren und Rechtfertigen – was den Zerfall aber nur beschleunigt und ausweitet. Das ist augenfällig für jedermann, nicht aber für jemanden, der selbst verzweifelt ist. Verzweiflung bringt die Liebe nicht zum Wachsen; sie ist lieblos.

Ein dergestalt entliebtes Paar ist von der Liebe nicht so endgültig abgeschnitten wie es scheint. Lieblos will nicht heissen, dass die Liebe weg wäre. Aber weit weg. Ausser Griffweite. Manchmal auch bloss gleich um die Ecke und darum ausser Sichtweite.

Stellen Sie sich den Alltag eines gewöhnlichen Paares vor, also zweier Leute, die sich früher einmal geliebt, das heisst geküsst und gevögelt haben. Vom Liebespaar sind sie zum Elternpaar geworden – zwei Spezies, die kaum mehr eine Ähnlichkeit haben. Entweder ist man das eine oder das andere; beides geht nicht.

Erstaunlich ist, dass solche Paare im Laufe ihrer Liebesgeschichte meistens nicht nur ihre Schleimhaut-Kontakte fahren lassen (weil sie undurchschaubar konfliktträchtig geworden sind), sondern auch die Berührung ihrer Haut. Das ist verräterisch. Es legt nämlich nahe, dass der Kuss früher als Teil des sogenannten Vor-Spiels dem Spiel zu dienen hatte. Es war kein absichtsloses genüssliches Berühren, höchstens in den allerersten goldenen zweisamen Monaten.

Wenn also die koitale Verrichtung wegfällt, sind auch die vorbereitenden Handlungen wie Streicheln, Erregen und Küssen ohne Sinn. Zärtlichkeiten haben keine eigenständige Existenzberechtigung. Vom Kuss bleibt fast nur die hypotrophierte Restliebkosung bei Begrüssung und Abschied übrig.

Als solcher ist er Bestandteil des paarinternen Knigge-Brauchtums. Ebenso unentbehrlich wie ausgemergelt. Flüchtig und reflexartig hingeworfen, spechtschnabelig mit versteiftem Sphinkter, auf den Mund zwar, aber trocken und keimfrei und atemlos, dafür laut wie eine Implosion. So implodiert die einst lebendige Körperliebe mit einem gewohnheitsmässigen dumpf platzenden Vakuum, das jedes Mal anzeigt, wie viel flöten gegangen ist. Für den Verlust sind die beiden allerdings anästhesiert, sie spüren nichts Auffälliges. Sicher solange alles automatisiert abläuft.

«Küsse sind das, was von der Sprache des Paradieses übrig geblieben ist.»
3)

Ja, eben, beides schrumpft gewöhnlich mit den Paar-Jahren krass zusammen, der Kuss und die Sprache. Ich meine den herzwarmen Kuss und die Sprache, die zur Sprache bringt, was das Herz bewegt.

Wenn beides verschrumpelt und degeneriert ist, Liebeskuss und intime Sprache, dann wird’s ungemütlich im Paargehäuse. Eigenartigerweise nicht weil real wirklich etwas fehlen würde. Küssen und Reden sind keine überlebensnotwendigen Ingredienzen für zweisames Wohlergehen. Was das Paradies zersetzt, sind diese fixen Ideen, die wir uns von der Intimität machen, vom intimen Kuss zum Beispiel. Es sind die Produzenten und Regisseure der bildgebenden Medien, die unsere erotische Fantasie in Sachen Kuss gleichzeitig aufblähen und ruinieren.
Das Aufgeblähte kollidiert mit dem Ruinösen. Auf Leinwänden und Monitoren bestaunen wir mit offenen Mündern, wie es sein könnte, wenn unsere Sehnsüchte wirklich würden. Wir bekommen bewiesen, wie himmelweit weg wir, wir zwei, davon entfernt sind. Wir mit unseren kläglichen Endmoränen einstiger elysischer Verzückung.

Die Ist-Soll-Diskrepanz ist viel grösser, als wir vorgeben. Sie ist so gross, weil wir sie kleinschweigen. Wir reden nicht über unsere Kuss-Realität. Mit niemandem. Erst recht nicht mit unserem Liebsten. Nicht einmal mit uns selbst. Dass unser Kuss stumm verschütt ging, ist nämlich unaussprechlich. Die Paarsprache ist damit überfordert. Der Schwund lässt dumpf Böses ahnen, was Angst macht und Scham.

Unseren Kuss schreiben wir eigentlich bis fast auf null ab.


Dessen ungeachtet pflegen wir ganz bestimmte Vorstellungen von Kuss und Küssen. Natürlich haben wir uns von den möglichen Urformen des Kusses ziemlich weit abgesetzt. Wir beschnüffeln und verküssen einander gewöhnlich nicht mehr wie ganz früher an den Geschlechtsorganen; andere Säugetiere machen das immer noch so. Weil sie auf vier Beinen stehen und gehen und wir auf zwei. Seit dem aufrechten Gang nehmen wir intimen Kontakt viel weiter oben auf, mit Hilfe von Augen, Ohren, Nasen, Mündern, Hirn und Herz.

Für das Cover meines letzten Buches hatte ich ein gutes Bild von einem küssenden Paar gesucht. Bei einer grossen US-Fotoagentur4) wurde ich fündig. 5000 Paare küssen sich dort. Fast alle bei geschlossenen Augen, fast alles Vogel-Strauss-Paare. Von der Handvoll Ausnahmen schaut der eine der beiden, meist die Frau, in die Kamera, praktisch niemand sieht sich dabei in die Augen.

Was ist das? So nahe, so intim – näher und intimer geht fast nicht – und man beamt einander weg! Es ist, als gäbe es einen unausgesprochenen Deal zwischen den zweien: Du schaust mich nicht an und ich dich auch nicht. Sie blenden sich gegenseitig aus, sie lassen einander in Ruhe, behelligen sich nicht mit Zudringlichkeit. Sie spielen Verstecken. Sie sagen zur Begründung, sie versinken nach innen, um den Kuss umso satter zu geniessen. Sie in ihr Innen, er in seins. Sie wollen also nicht gestört werden.

Sie könnten es ja mal selbst versuchen und das nächste Mal mit offenen Augen küssen. Sehen Sie, es geht fast nicht. Jedenfalls nicht länger als zwei, drei Augenblicke. Ein kräftiger Reflex zieht Ihnen die Augen zu. Wenn Sie widerstehen und beherzt schauen, überwältigt Sie die Präsenz Ihres Gegenübers. Sein Gesicht verschwimmt vor Ihren Augen, seine Augen dringen aus nächster Nähe in die Ihren ein, Sie versinken widerstrebend in seiner Seele, ängstlich, beschämt, sehnsüchtig. Sie setzen sich zur Wehr und unterliegen, wehren sich und geben sich hin, halten sich fest und lassen los, verschliessen sich und verfliessen, erstarren und lösen sich auf. Und so weiter. Hin und her.

Was Sie seit den längst entschwundenen Tagen der Verliebtheit vermissten, regt sich plötzlich wieder in Ihrem Bauch: Schmetterlinge! Intimität ist überraschend zurückgekehrt. Nicht als kuscheliges Wohlfühl-Gefühl, nein, Ihr Mut hat Ihren Bauch zu neu durchblutetem Leben durchzuckt. Ja, unbehaglich kann es wohl sein, dieses neue Leben, verunsichernd, etwas beängstigend sogar. Aber anästhesiert sind Sie mit Sicherheit nicht mehr. Sie sind auf einmal ganz da. Zusammen mit dem Menschen, den Sie lieben.

Jetzt sind wir unversehens in die Nähe der unsäglichen Journalistenfrage geraten: Was ist ein guter Kuss?

Die Frage ist entweder zu nichts nütze oder nicht beantwortbar. Wer nämlich verliebt ist, braucht sowieso keinen Coach oder Souffleur. Ein entflammtes Paar küsst leidenschaftlich aus Herz und Eingeweiden heraus, heiss und wild, chaotisch und anarchisch, hormongesteuert. So wie es uns die Filmregisseure vorführen – nur in echt und viel vielfältiger und viel länger als auf der Leinwand.

Doch vollends absurder Nachhilfeunterricht ist das für uns Nichtverliebte. Uns weismachen zu wollen, wie man gut küsst, ist ebenso sinnlos wie lächerlich. Allein die Tatsache, dass wir immer wieder ähnliche leidenschaftliche Szenen vorgeführt bekommen, führt uns in die Versuchung, uns eine einförmige und festgefügte Fantasie davon zu machen, was gut Küssen sein müsste – eben «leidenschaftlich». Da aber unsere Leidenschaft lange verflogen ist, ist diese Auskunft auf die Frage «Wie geht gut Küssen?» voll daneben, gewiss zur Gänze irr.

Das wirft man sich ja in heruntergewirtschafteten Paarschaften vor: «Seit langem ist deine Leidenschaft weg! Du liebst mich nicht mehr.» Als ob man sich unter Leidenschaft einen Tank vorzustellen hätte, der ständig mit erotischem Brennmaterial gefüllt sein müsste – sofern man sich richtig und zünftig liebt. Genauer, solange man leidenschaftlich geliebt wird. An der fantasierten Qualität des abwesenden Kusses glaubt man ablesen zu müssen, wie bedenklich es mit der Liebe steht. Das glaubt und denkt man ganz für sich allein. Es in Worten auszudrücken wäre zu strapaziös, viel zu brenzlig.

Fata Morganen sind eine aus Mangel geborene Verkennung der Realität. «Leidenschaft» ist so eine Verzerrung dessen, was ist. Wer ihr hinterher läuft, verdurstet am Ende.

Und ein «guter Kuss» – was ist das? Er hat mit dir und mir zu tun. Mit der Realität unseres Zusammenseins, unseres kruden Alltags, unseres Zusammen- und Auseinanderlebens. Mit der gelungenen Ernüchterung darüber, wie wir uns selbst, uns gegenseitig und unsere Beziehung sehen gelernt haben, seit wir einander über den Weg gelaufen sind. Ausnüchterung möchte ich es nennen, nach dem Hormondusel, den wir zusammen erlebt haben. Nach dem gemeinsamen Katzenjammer, der unserem Phenylethylamin-Suff auf dem Fusse folgte. Nüchtern müsste er wohl sein, der Kuss eines Paares, das geerdet ist. Für ein sogenanntes Traumpaar kommt so etwas nicht in Frage. Denn Küssende sind auf dem Erdboden und wach.

Können Sie sich einen «nüchternen Kuss» überhaupt vorstellen? Oder klingt der Begriff in Ihren Ohren wie ein nerviges Oxymoron? Kann ein nüchterner Kuss – sofern er möglich ist – ein «guter Kuss» sein?

Ein Kuss kann nur gut sein, wenn er überhaupt stattfindet. Und zwar nicht ausschliesslich als anorektische, spitzmäulige Ritualgebärde. Ich meine, ein Paar könnte sich ausdrücklich entscheiden und einig sein: Ab heute hegen wir den Kuss. Wir überlassen ihn nicht länger den Jungen.

Also bevor man den Mund zum Küssen wird brauchen wollen und können, muss man selbigen zum Reden nutzen. Ich weiss, wie gross und weitverbreitet unter bestandenen Paaren die Beisshemmung ist für beides, fürs Reden und fürs Küssen. Hier zeigt sich, wie viel Reden und Küssen mit Intimität zu tun haben. Intimität ist nichts für schwache Nerven. Intimität gehört den Beherzten. Vor allem jenen, die hören wollen und können, was der andere sagt, mit offenem Ohr und offenem Herzen.

Intimität ist demnach kein Kitschgefühl. Kuschelliebe ist wohl nicht wirklich intim, höchstens ein flacher Hochglanzprogrammpunkt im Flyer eines Wellnesstempels. Erst dort wo die Behaglichkeit aufhört, beginnt das Intime. Ab dann sagen wir einander, was wirklich ist – oder einen Teil davon. Ab dann beginnen wir den Kuss als Neuland zu erkunden. Als noch unerforschten Kontinent.

Dort gibt es so gut wie keine Infrastruktur, keine Autobahnen, keine Viersternehotels, keine Verwaltung. Eher Wildnis, wo alles neu, überraschend, manchmal auch ängstigend ist. Nein, mit wild meine ich nicht heissblütig, sondern authentisch und präzis stimmig für das Hier und Jetzt. Und für die nackte Beziehungsrealität.

Wahrscheinlich gelingt es mir nicht, solches Neulandküssen zu beschreiben, ohne wieder straffe und starre Vorstellungen in die Welt zu setzen, was ich nicht möchte. Ich versuch’s trotzdem.

«Es gehört viel Erfahrung dazu, wie eine Anfängerin zu küssen.»5)

Jede echte Anfängerin küsst anders, eigen, wie niemand sonst. Weil sie sich nicht auskennt in dem Neuland, ist sie neugierig6) und ganz da. Sie schaut sich um, tastet und befühlt vor und zurück, schnuppert und wittert herum, kostet und gustiert.

Die Kuss-Anfängerin tut sich keinen Zwang an und überlässt das Küssen nicht allein ihrem Mund. Das ganze Gesicht darf mitküssen, wenn es möchte. Die Nase, die Backen, das Kinn, die Ohren, die Stirn, die Haare – die Brauen und Wimpern besonders. Was für eine Vielfalt, welch eine Finesse!

Des Anfängers Hände! Die Finger sind auch dabei und küssen selbst, die Fingerkuppen, die Nägel, die Handballen, alles. Sie spielen die Begleitmusik zum Küssen, sind nahe dran und drin vielleicht.

Und natürlich der ganze übrige Körper. Die grossen Berührungsflächen über Brust, Bauch, Schenkel oben und unten, Füsse wenn nackt. Die Arme, die schmiegen, andrücken, umfassen. All das kann mitküssen.

Weil der Kuss-Anfänger beim Küssen jedes Mal wieder neu ist, braucht er für all das Zeit, viel Zeit. Er ist langsam. Je langsamer, umso mehr Kuss. Umso mehr Berührung und Kontakt. Das könnte womöglich eine gute Nachricht sein für Paare, die seit langem den genitalen Sex eingestellt haben. Weil die Schwelle zum Geschlechtsverkehr zu hoch gewuchert und offenbar nicht mehr zu überwinden ist.

Küssen indes ist niederschwellig, ganz leicht zugänglich. Auch für vegetarische Paare. Jedenfalls solange der Kuss nicht schlabberig ist, wässrig oder verschlingend. Darauf könnte man sich doch ausdrücklich einigen: Wir küssen uns wieder, aber in jedem Fall häutig, nicht schleimhäutig. Abgemacht – für die nächsten vier Wochen. Dann reden wir drüber und schauen weiter. Okay?

Merke: Nasse Küsse sind Geschlechtsverkehr, gewöhnlicher Geschlechtsverkehr. Gewöhnlicher Geschlechtsverkehr ist für feste Paare im Reihenhaus häufig entweder unpassierbar oder absturzgefährdet und darum gefürchtet und gemieden. Aber Küsse nah entlang, das heisst diesseits der Haut-Schleimhautgrenze sind intim, weil fremd und nicht geläufig. Sie machen den Kontakt unschwer erfahrbar.

Ein guter Kuss ist genau wie meine Hand auf deine Hand legen: unspektakulär, sorglos, ohne Absicht. Er will nur berühren – sonst nichts. Er will sagen, ich bin da. Bei dir. Ich will nichts erreichen, weder Innigkeit noch Erregung noch Leidenschaft. Ich will nichts herschaffen. Weil alles da ist. Ich muss nichts wollen. Wohllust kommt vor Wollust.

Der gute Kuss ist entspannt.

Nun, ganz so einfach ist es vielleicht doch nicht. Der gute Kuss ist ein flüchtiges Kunstwerk zu zweit und kein Solospiel.

Stellen Sie sich vor: Sie stehen vor Ihrer langjährigen Lebenspartnerin, Sie drücken sie an sich und küssen sie. Die beiden Barchent-Leintücher von René Magritte sind weg. Sie sehen ihr Gesicht, in ihre Augen. Sie berührt Sie zurück, Sie spüren ihren warmen Atem auf Ihren Wangen. Es ist still.

Nein, es ist eigentlich nicht wirklich kompliziert. Jetzt in diesem Augenblick jedenfalls nicht. Im Moment will offenbar niemand etwas anderes, als was ist. Und Sie zwei hatten sich ja geeinigt, gemeinsam Ihr Küssen zu hegen, auch wenn es sich nicht so verzückt anfühlt, wie es auf den Leinwänden und in Ihren entrückten Erinnerungsbildern von früher aussieht.

Der gute Kuss ist ein alltagstauglicher Kuss. Er hat in keiner Weise romantisch und sentimental zu sein. Er ist die spielende ebenerdige Begegnung zweier Menschen, die ihre Berührung geniessen.


1) «Magritte Die Liebenden» (Google-Suche)
2)
Lustverlust im Liebesleben. Vortrag an den 61. Lindauer Psychotherapiewochen 2011.
3) Von Joseph Conrad, polnisch-britischer Schriftsteller, 1857-1924
4)
corbisimages.com
5) Von Tsa Tsa Gabor, US-ungarische Schauspielerin, *1917
6) Neugier ist eine deutsche Übersetzung für das griechische Wort Eros.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor