Dr. Klaus Heer

20minuten vom 3. Juli 2015
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«Schweizer Ehepaare lassen sich viel seltener scheiden»

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Ehe hält, ist deutlich gestiegen. Das zeigen neue Zahlen des Bundesamts für Statistik.

VON JAQUELINE BÜCHI
Bis dass der Tod euch scheidet: Die Chance, dass ein Ehepaar für immer zusammenbleibt, liegt heute bei 60 Prozent. Dies zeigen Berechnungen des Bundesamts für Statistik. Die übrigen 40 Prozent der Ehen dürften irgendwann wieder geschieden werden. Ein stattliches Risiko, könnte man sagen. Fakt ist aber: Die Scheidungs-Wahrscheinlichkeit ist damit so tief wie seit zwölf Jahren nicht mehr.

Vor fünf Jahren war noch davon auszugehen, dass über 54 Prozent der Ehen wieder in die Brüche gehen. Die Statistiker des Bundes berechnen diese Wahrscheinlichkeiten anhand der effektiven Scheidungszahlen im betreffenden Jahr. 2010 wurden in absoluten Zahlen über 22'000 Ehen geschieden, letztes Jahr waren es noch 16'700 – also fast ein Viertel weniger. Gleichzeitig ist die Zahl der Eheschliessungen und Geburten angestiegen.

Gegenbewegung zur Individualisierung

Soziologe Ueli Mäder erstaunt es nicht, dass das Bedürfnis nach sozialer Verbindlichkeit wieder zugenommen hat. Ganz früher hätten die Leute gar keine andere Wahl gehabt, als in einer Ehe zu bleiben. «Die soziale Kontrolle war gross, Scheidungen geächtet, die Leute lebten in einer Art Zwangsgeborgenheit.» Danach habe eine Zeit der Individualisierung stattgefunden. «Die Leute brachen aus dem gesellschaftlichen Korsett aus, suchten ihre Freiheit in der Anonymität und Unverbindlichkeit.» Dadurch seien auch die Scheidungsraten gestiegen.

Nun scheine es, als sei dieser Lebensstil vielen Menschen «zu beliebig» geworden, so Mäder, der schon seit 1968 – er war damals 16 – mit seiner heutigen Frau zusammen ist. «Manche haben gemerkt, dass es anstrengend und unbefriedigend sein kann, den Partner im Jahrestakt zu wechseln.» Gerade, weil den Leute alle Optionen offenstünden, sehnten sich viele nach mehr Beständigkeit. «Im Gegensatz zu früher bleiben viele Paare zusammen, nicht weil es die Gesellschaft von ihnen verlangt, sondern weil sie es wirklich wollen.»

Leben mit dem «Notausgang»

Dies beobachtet auch Paartherapeut Klaus Heer. Als sich das Tabu der Scheidung aufgeweicht habe, hätten manche Paare «vielleicht etwas überstürzt» von der neuen Möglichkeit Gebrauch gemacht. Heute würden Paare wieder mehr in die Beziehung investieren. «Das Bewusstsein, dass jede Beziehung einmal eine sehr strapaziöse Phase durchläuft, ist gestiegen – und damit die Bereitschaft, ein Beziehungstief miteinander durchzustehen.» Zu wissen, dass es im Hafen der Ehe einen «Notausgang» gibt, könne zum Durchhalten motivieren.

Guy Bodenmann, Paartherapeut und Psychologie-Professor an der Universität Zürich, relativiert. Einerseits könnte ein neues Erfassungssystem dafür gesorgt haben, dass der Rückgang in der Statistik stärker scheint, als er eigentlich ist. Zudem sei das Scheidungsniveau über Jahre so hoch gewesen, dass irgendwann ein Rückgang zu erwarten gewesen sei. «Ich würde von einer Stagnation auf hohem Niveau sprechen. Noch immer enden zu viele Ehen in einer Scheidung.»
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor