Dr. Klaus Heer

kath.ch vom 8. September 2015
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«Sexualität macht zu allererst Freud’, nicht Nachwuchs»

Die katholische Kirche soll das «veterinärbiologische Dogma», wonach Sexualität allein der Fortpflanzung zu dienen hat, aufbrechen. Dies sagt der prominente Schweizer Paartherapeut Klaus Heer (71). kath.ch hat mit Heer, der aus einer Innerschweizer Bauernfamilie stammt, über die kommende Familiensynode und Paarbeziehungen gesprochen.

INTERVIEW: BARBARA LUDWIG
2014 und 2015 befasst sich die katholische Kirche auf Wunsch des Papstes mit Ehe, Familie und Sexualität. Nicht ausgeklammert werden heisse Eisen wie der Umgang mit geschiedenen Katholiken, die eine zweite (Zivil-) Ehe eingehen, und Homosexuellen. Wie kommt das bei Ihnen an?
Klaus Heer: Beeindruckt hat mich das Vorbereitungsdokument für die erste Familiensynode. Die Fragen sind erstaunlich offenherzig und unvoreingenommen. Die zögerlichen Antworten der Bischöfe nach der ersten Synode sind inzwischen bekannt. Für die zu erwartenden Antworten der zweiten Synode im Oktober bin ich weniger zuversichtlich.

Die Kirche steckt in einem Dilemma: Sie predigt das Ideal der unauflöslichen Ehe; gleichzeitig erwarten viele Gläubige von ihr einen barmherzigeren Umgang mit den Menschen, die sich in einer anderen Lebensrealität befinden; das Ideal lehnen sie aber nicht grundsätzlich ab. Welche Lösung sehen Sie für die Kirche?
Sowohl die Kirche als auch jedes einzelne Paar finden sich in derselben Klemme: Sie möchten hehre Ideale umsetzen, schaffen es aber nicht wirklich. Beiden bleibt wohl nichts anderes, als beide Seiten des schmerzlichen Dilemmas zu umarmen. Barmherzigkeit kommt vor Moral.

In einem Interview sagten Sie, auch Beziehungen seien sterblich. Ist das ein Argument gegen das Ideal der Unauflöslichkeit?
Die Vergänglichkeit aller Beziehungen ist kein Argument, sondern die Realität. Mal überlebt die Liebe die Liebenden, mal verblüht sie schneller als den Liebenden lieb ist. Es ist wie mit den Blumen: Auch in der Liebe kann man einen grünen Daumen haben. Und glücklich ist, wer einen liebesbegabten Partner hat.

Woran sehen Sie in Ihrer Praxis als Paartherapeut, ob die Beziehung eines Paares noch lebt oder schon tot ist?
Niemand kann das wissen. Manche Paare sind für mich ein Aufsteller, ein paar wenige ein Ablöscher. Aber ich hüte mich strikt, aus diesen persönlichen Gefühlen diagnostische Schlüsse zu ziehen. Die Leute selbst sagen meistens, ihre Liebe sei eingeschlafen. Dann gelüstet es mich, sie zu wecken.

Sind diese Weckversuche erfolgreich?
Manchmal ja. Tote oder scheintote Paare lassen sich indes nicht wecken; sie wollen ihre Ruhe haben. Egal ob sie verstummt sind oder verkracht. Die Kirche ist im Übrigen auch kaltblütig, wenn sie verlangt, dass sich ein lebendiger Mensch zu einem Toten ins Bett legt.

Wie könnte die kirchliche Seelsorge Paaren helfen, ihre Beziehung lebendig zu halten?
Vermutlich indem sie beherzt direkte Fragen stellt und dann liebevoll zuhört. Ratschläge sind Faust-Schläge; sicher wenn sie unerwünscht sind und nicht bestellt wurden.
Papst Franziskus hat kürzlich eine differenzierte Sicht auf wiederverheiratete Geschiedene angemahnt. Man soll unterscheiden zwischen demjenigen, der die Trennung (der Erstehe) verursacht habe, und dem, der sie erleide. Lässt sich die Schuld am Scheitern einer Ehe wirklich so einfach dem einen Teil zuordnen?
Das soll Franziskus gesagt haben? Glaube ich nicht. Das Schuld- und Verursacherprinzip hat doch ausgedient, besonders wenn’s schwierig wird in der Liebe. Das muss sich längst bis in den Vatikan herumgesprochen haben. Immer nach der Schuld des anderen zu äugen ist nämlich das Hauptproblem einer scheiternden Liebe.

Die katholische Kirche ruft homosexuelle Menschen zur Keuschheit auf. Haben Sie eine Erklärung für den Widerstand der Kirche gegenüber gelebter Homosexualität?
Homophobie ist noch immer weltweit stark verbreitet. Viel stärker als man zugeben will. Natürlich ist nicht zu erwarten, dass ausgerechnet die patriarchale Kirche mit ihrer sexuell verkorxten Vergangenheit hier wesentlich weiter ist.

Sie stammen aus einer Innerschweizer Bauernfamilie, besuchten katholische Schulen. Als Psychologe und Paartherapeut schrieben Sie Bücher über die Paarbeziehung und Sexualität. Ich nehme an, Sie haben sich ganz gründlich von kirchlichen Vorstellungen über Ehe und Sexualität emanzipiert.
Äxgüsi, wer glaubt denn heute noch an das veterinärbiologische Dogma, wonach Sexualität allein der Fortpflanzung zu dienen hat? Kein Mensch, der einigermassen ernst zu nehmen ist. Sexualität macht zu allererst Freud’, nicht Nachwuchs. Ja, auch der Frau macht sie Freud’. Wenn nicht, ist’s Gewalt. Ich lasse mich auch nicht knebeln von der verkrampften These, die Ehe müsse unbedingt halten, egal wie kaputt sie ist. Das wär dann Nötigung oder Masochismus. Und jedes Stirnrunzeln gegenüber Homosexuellen ist menschenverachtend. Und zusätzlich noch widerlich, wenn es von Hochwürden kommt.

Gibt es dennoch Aspekte des Themas «Ehe» oder «Sexualität», wo Sie finden, Sie seien nach wie vor von der katholischen Prägung beeinflusst?
Ehe ist für mich mehr als das Obdach, unter dem das Glück auf mich wartet. Sexualität garantiert nicht meine Grundversorgung an Erregung und Befriedigung. Beides, Ehe und Sexualität, sind mir meiner Lebtag nie wirklich fasslich und transparent geworden. Auf gut katholisch könnte das Geheimnis und Geschenk heissen. Und meine Antwort muss Hingabe sein. (bal)
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor