Dr. Klaus Heer

Gesundheit Sprechstunde vom 24. März 2006
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«Wenn nur noch von Windeln die Rede ist»


Nach der Geburt des ersten Kindes fühlt sich ein Paar oft fremdbestimmt. Das Baby gibt den Ton an. Aus Frau und Mann werden Mami und Papi.


INTERVIEW: KARIN MÜLLER
Ist die Geburt eines Kindes der Lustkiller Nummer 1?
Ich habe die Lustkiller noch nie durchnummeriert, es gibt deren zu viele. Die Ankunft eines Kindes ist für jedes Paar eine Herausforderung erster Güte.

Viele Männer wagen in den ersten drei Monaten nach der Geburt einen Seitensprung. Warum?
Ich habe von glaubwürdigen Untersuchungen gehört, wonach die männliche Untreue-Welle schon während der Schwangerschaft einsetzt. Der dicke Bauch der Frau, die blutige Geburt und die Besetzung der Brüste durch das hungrige Baby sind für viele Männer ein erotischer Ablöscher. Sie fühlen sich vom eigenen Sprössling an den Rand gedrängt.

Eigentlich komisch: Kinder werden als Krönung einer Liebe gezeugt und dann dieses Dilemma!
Alles soll unter einem einzigen Hut Platz finden: Die Zwei wollen das Liebespaar bleiben, das sie sind, und gleichzeitig eine Familie werden. Es ist, als ob der Sommer sagen würde: Ich will aber Frühling bleiben!

Der Mann wird zum Vater: Was ändert sich?
Er muss seinen Platz als wichtigster Mensch im Leben seiner Frau räumen oder zumindest mit seinem Kind teilen.

Gleichzeitig sieht er sich in die volle Familienverantwortung hinein katapultiert. Meist wird er zuständig für die wirtschaftliche Seite der neuen Gemeinschaft – unter Umständen ein harter Job! Und in den eigenen vier Wänden sieht er sich ungewohnt unerbittlichen Forderungen gegenüber: Er soll zupacken, auch in der Nacht. Lieben heisst jetzt auf einmal nicht mehr liebeln und lächeln, sondern solidarisch sein.

Welche elterliche Solidarität kann eine Frau von ihrem Mann erwarten?
Im besten Fall kann sie so viel erwarten, wie sie mit ihrem Mann ausgehandelt hat. Die Schattenseiten der klassischen Arbeitsteilung sind nicht nur für die Frau drückend; hundert Prozent oder mehr Erwerbsarbeit plus jede Menge Kinder- und Haushaltseinsatz, das ist auch für den willigsten und zähesten Mann viel. Besonders wenn seine Frau seinen Beitrag zum Wohl der Familie unterschätzt, übersieht oder gar missachtet. Das ist vermutlich genauso häufig und genauso zermürbend wie umgekehrt: Männer können sich kaum vorstellen, was es für eine Last sein kann, sich Tag für Tag mit Kind, Küche und Kleinkram herumschlagen zu müssen.
Warum meinen Männer noch immer, Kinderhaben sei hauptsächlich Frauensache?
Weils auch viele Frauen immer noch meinen. Ist ja irgendwie auch verständlich, das zu meinen. Schliesslich sind sie es, die das Kind in ihrem Bauch herumtragen, gebären und säugen. Das verbindet. Und die Männer können sich eigentlich überhaupt nicht vorstellen, sich freiwillig abhängig oder teilabhängig zu machen von ihrer Frau. Also verteidigen sie ihre überkommenen Privilegien.

Wie kann sich eine Frau gegen eine solche Falle wehren?
Indem sie alles tut, um gar nicht erst hineinzutappen. Wer schon drin ist, hat die allergrösste Mühe, wieder raus-zukommen. Ich erlebe die erbittertsten und oft aussichtslosesten Kämpfe zwischen Mann und Frau, die ihr Leben und Zusammenleben so eingerichtet haben, dass sie auf Dauer nicht damit leben können. So bleibt also nur, sich vorsehen und vorsorgen! Eigentlich dürfte sich keine Frau mit ihrem Mann auf ein Familienprojekt einlassen, ohne klaren Kopfes verhandelt zu haben über die Frage: Wer steuert was zu dem Unternehmen bei? Und das Verhandlungsergebnis müssten sie schriftlich festhalten. Sonst ist es erfahrungsgemäss nicht verlässlich.

Was kann ein Paar unternehmen, dass die Frau nicht nur noch von Windeln wechseln spricht und der Mann meint, sie würden sich auseinanderleben?
Da die junge Elternschaft jetzt offensichtlich absolut im Zentrum steht, sind eben die Windeln zentrales Thema der beiden, neben Hunderten von ähnlichen Kleinfamilienthemen. Wer sich dieser umfassenden Aufgabe gemeinsam hingibt, wird zusammenwachsen, nicht sich auseinanderleben. Vorausgesetzt es gelingt, dafür zu sorgen, dass sich das Paar immer wieder kleine Zeitinseln schafft.

Als Paar ohne Kind lebte man ganz anders. Was tun, damit Freunde von früher nicht plötzlich verloren gehen?
Die Single-Freunde sind gewöhnlich nicht sonderlich scharf auf Familiengroove. Damit ist allen gedient, wenn beide Partner je ihre eigenen Kontakte weiterpflegen oder wieder aufnehmen. Ich bin fast sicher, dass eine Beziehung als abgekapselte Minisekte nicht überlebensfähig ist.

Was raten Sie also werdenden Eltern?
Mit grossem Vorteil machen sie sich bei Paaren kundig, die bereits mittendrin stehen. Da werden sie mitbekommen: Es wird intensiv werden!
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor