Dr. Klaus Heer

Annabelle vom April 2006
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Gibt es die grosse Liebe?

Ja. Nein. Vielleicht. Und wie definiert man sie?
Die Sehnsucht nach ihr hat alle Zeiten überdauert, Menschen aller Schichten und Altersgruppen glauben - unabhängig von eigenen Erfahrungen in der Beziehung und der Familie -, dass es sie gibt: die grosse Liebe, die ewige Liebe. Doch die Realität sieht meistens - anders aus. Viele sind enttäuscht, gehen eine Beziehung nach der andern ein - und geben trotzdem nicht auf. Gibt es sie überhaupt, die grosse Liebe? Schadet der Glaube an sie nicht mehr, als dass er nützt? Wäre es nicht an der Zeit, sich von ihr zu verabschieden und den Weg freizumachen - vielleicht für mehrere grosse Lieben? Oder viele kleine? Die einzige, die grosse, wenn es sie denn gibt sie könnte dann immer noch kommen.

annabelle hat diese Fragen Männern und Frauen gestellt, die es auf Grund ihres Berufs oder ihrer Biografie wissen müssten.

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Nicht ganz ausgeschlossen, dass es mit der grossen Liebe ist wie mit den Gespenstern: Alle reden davon, aber nur wenige haben sie selbst gesehen, erlebt. Oder wüssten wir womöglich überhaupt nichts von ihr, wenn wir nicht im Detail davon gehört hätten? Die Medien lassen sich weidlich darüber aus; allein im Internet ist auf fast anderthalb Millionen deutschsprachigen Websites die Rede von der grossen Liebe.

Das stachelt natürlich unsere Sehnsüchte an. Wir möchten auch! Wenigstens einmal im Leben! Einmal dem Menschen begegnen, der «für mich bestimmt» ist! Und ich für ihn. Einmal füreinander entflammen in der grossen Liebe, auf den ersten Blick vielleicht sogar, flugs uns nahtlos ineinander fugen, mit Leib und Seele, uns wortlos verstehen und voll vertrauen. So schön!

Kitsch? Halluzination? Nein, das gibts wirklich manchmal! Tatsächlich kann zwei Leuten, wenn sie Glück haben, das Glück vom Himmel präzis in den Schoss fallen und einen himmlischen Augenblick oder zwei dort verweilen.Vielleicht sogar etwas länger.

Ein eigenartiger Zustand, diese akute grosse Liebe: schräg, zwiespältig, zerbrechlich! So etwas wie eine verschwörerische Sekte mit zwei glühenden Mitgliedern ists, funktionierend nach Regeln, die von aussen kaum zu verstehen sind. Man könnte vermuten, die beiden schwebten in schwerelosem rosa Paradiesgewölk, doch die Hölle ist immer auch da, gleich um die Ecke. Das mindestens erzählen Leute, die es erlebt haben. Sie berichten überdies, nie in ihrem Leben hätten sie so viel in eine Beziehung gesteckt wie zu der Grosse-Liebe-Zeit — ohne es zu merken. Der Aufwand war enorm und enorm leicht zu erbringen.
Ganz im Gegensatz zu später, wenn sich die gleiche grosse Liebe zur häuslichen Alltäglichkeit gewandelt hat und jeder den Aufwand vom anderen erwartet. Aber das ist ein anderes Thema.

Das gibt es in der Tat auch, die nüchterne grosse Liebe, die im Laufeiner langen Zeit wahrhaft gross geworden ist. Meistens hatte sie genauso mit jener rauschenden Verliebtheit begonnen, die viele Paare in Versuchung fuhrt, zusammenzuziehen und manchmal sogar den «Bund fürs Leben» zu schliessen. Enttäuschung, Ernüchterung sind dann unvermeidlich; doch das Paar, unterwegs zur nüchternen grossen Liebe, schafft es, den Riesendämpfer zu überleben und sich allmählich gegenseitig so zu akzeptieren, wie sie sind. Zeitweise kein Vergnügen, gar nicht!

Darum ziehen es viele vor, von der trunkenen grossen Liebe zu träumen. Sie stellen sich vor, wenn der Richtige käme und die zwei das Richtige täten, dann müsste die Liebe so gross werden wie in ihren Träumen. Haut das nicht hin, dann wars eben nicht «der Richtige», oder man hat zu viel falsch gemacht. Also beginnt die Suche von vorn, und mithin kommen vielleicht im Laufeines Lebens ein paar grosse Lieben zusammen.

Ob einem diese verrückte Passion geschieht, einmal oder mehrmals, oder ob man über Jahre zusammenwächst zu einer erprobten Lebensgemeinschaft, ist wohl zu einem Gutteil Glückssache. Beides ist nicht gleichzeitig zu haben. Und nicht gratis. Wer mit den unentrinnbaren Risiken und Nebenwirkungen nichts zu tun haben will, lasse die Finger von der Liebe. Vor allem von der grossen.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor