Dr. Klaus Heer

Wege 3/2009
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Liebe, Sex und andere Schwierigkeiten

Was haben Sex und Liebe miteinander zu tun? Und ticken Frauen hier anders als Männer? Auf der Suche nach kompetenten und schlüssigen Antworten ist die WEGE-Redaktion bei einem „alten Verbündeten“ gelandet: der Schweizer Paartherapeut Klaus Heer hat es schon in früheren Ausgaben vorzüglich verstanden, die WEGE-LeserInnen zu konfrontieren und zu berühren. An einem Samstagnachmittag im Oktober traf ihn Eva Schreuer im Video-Skype zu einem erfrischend offenen Interview.
Eva: Hallo Klaus, am Cover deines neuesten Buches steht die Frage „Was ist guter Sex?“... Welche Rolle spielt dabei die Liebe?
Klaus Heer: Gestatte mir eine gewagte Vermutung: Wahrscheinlich sind die meisten Menschen mit mir einig, dass wirklich guter Sex nur mit jemandem möglich ist, den ich liebe. Und der mich liebt. Einen Menschen, den man liebt, auch körperlich zu lieben, ist doch das unfasslich Schönste, was das Leben überhaupt zu bieten hat. Finde zumindest ich.
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Klingt wunderbar romantisch. Dann gefällt dir sicherlich auch der Ausdruck „Liebe machen“?
Ja. Jedenfalls besser als zum Beispiel die abstoßenden Allerweltsbegriffe „Bumsen“ oder „Ficken“. Der Ausdruck „Liebe machen“ deutet an, dass wir als sexuelle Wesen eine Aufgabe haben. Nämlich die Aufgabe, uns nicht nur emotional und seelisch, sondern auch körperlich zu lieben. Als Menschen sind wir ja einerseits Tiere und andererseits so etwas wie Engel. Wie alle Säugetiere haben wir einen animalischen Sexualtrieb - und sind gleichzeitig Lebewesen, die auch liebend miteinander verkehren können. Das ist typisch für uns Menschen: Wir haben verschiedenartige Seiten - und was uns zusammenhält, ist unser Bewusstsein und unsere Bewusstheit. Was uns auszeichnet, ist die Sprache, mit der wir uns über die Körpersprache hinaus verständigen können. Und wirklich glücklich sind wir, wenn wir uns lieben.

Du meinst, wenn wir uns körperlich lieben...?
Liebe machen ist eben ein wundersames Kunststück. Die Kunst besteht darin, dass wir nicht nur zwischen den Beinen verbunden sind, sondern auch auf Augenhöhe, auf Mundhöhe, auf Herzhöhe. Das ist überhaupt nicht einfach.

Aber DAS ist dann wirklich guter Sex...?
Weißt du, manchmal kommen Leute zu mir, die behaupten, sie hätten „tollen Sex“ miteinander... Ich glaube es ihnen nicht. Denn guter Sex ist viel zu anspruchsvoll, als dass unvollkommene Menschen, die wir doch alle sind, das zustande bringen und es dann noch „toll“ nennen könnten. Guten Sex haben wir, wenn wir gemeinsam unterwegs sind mit unserer Sexualität, immer auf der liebevollen Suche nach der berührenden Begegnung von Mann und Frau. Diese latente Unzufriedenheit wird uns immer in Bewegung halten und uns ständig verlocken, miteinander über Sex und Liebe zu reden.

Alle Menschen, die behaupten, sexuell rundum zufrieden und satt zu sein, machen sich also was vor?
Die Unzufriedenen und Sehnsüchtigen haben viel mehr Chancen, es über Jahre gut zu haben im Bett. Jedes wahrhaftige Paar wird sich eingestehen: Ja, unser Liebesleben ist ein anspruchsvoller Weg. Ein steiniger Himmelsweg. Es ist natürlich nichts für kleinmütige Menschen, einander liebevollschonungslos zu sagen, was diesmal beim Sex gut und was nicht so gut war. Das schaffen nur beherzte Leute. Es ist eine starke Herzenssehnsucht, die sie antreibt, mutig den Weg zu einer geglückten sexuellen Begegnung zu gehen - ohne je wirklich anzukommen.

Die Kunst des Liebe-Machens besteht darin, beim Sex nicht nur zwischen den Beinen verbunden zu sein, sondern auch auf Augen-, Mund- und Herz-Höhe.


„Herzenssehnsucht“ klingt nach Liebe, oder?
Ja, das ist so. Die Liebe will ja den Partner immer ganz sehen. Nicht nur seine Honigseite. Auch das Unvollkommene an ihm und an unserer Begegnung. Wenn ich die Licht- und Schattenseiten des Anderen nicht oder kaum kenne, dann kann ich auch nicht wirklich guten Sex mit ihm haben. Das ist dann eher ein zufälliges und rein hormongesteuertes fleischliches Bettmeeting... So ein Einsamen von zwei Einsamen ist eigentlich etwas Trauriges. Das ist unvergleichlich unvollkommener als in einer Beziehung mit liebevollem Engagement, wo sich zwei Menschen bemühen, ihre Sexualität auch nach einigen Beziehungsjahren nicht vom Alltag überwachsen zu lassen. Vielleicht ist eine glückliche Sexualität wirklich gedacht als besonders köstlicher und exklusiver Proviant für Paare, die auf der buckeligen Erde spurtreu auf Reisen sind. Ein Geschenk des Lebens also an Paare, die es verstehen, mit diesem Geschenk großherzig umzugehen.

Könnte es sein, dass Frauen der Umgang mit diesem Geschenk besser gelingt, als Männern?
Nein, das glaube ich nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen größer sind, als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Natürlich gibt es die biologischen Unterschiede - aber auf allen anderen Ebenen werde ich mich hüten, hier bestehende Klischees zu zementieren...
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...wie etwa John Gray mit seinen Mars-Venus-Büchern? Immerhin hat er damit weltweit Millionenauflagen erreicht - da muss doch was dran sein, wenn sich die Menschen davon derart angesprochen fühlen?
John Gray ist ein Populist. Er macht sich den Umstand zunutze, dass sich sehr viele Menschen in ihren Beziehungen nicht verstanden fühlen. Sie vermissen das Verständnis in den eigenen vier Wänden, bei ihrem Partner, und wollen es deshalb bei John Gray finden. Aber was haben sie davon, wenn sie sich gegenseitig in die vorgefertigte Mann-Frau-Schublade Marke Gray stecken? Wenn sie überzeugt nachplappern, die Männer stammen vom Mars und die Frauen von der Venus? Das sind doch kindische Binsenweisheiten. Nach meiner Erfahrung kommen Männer aus Basel oder Wien, und Frauen aus Linz oder St. Pölten oder sonst woher. In Wirklichkeit bin ich als Mann eine originale Einzelanfertigung, ein unverwechselbares Geschöpf - und meine Frau auch. Als sexuelle Wesen sind wir beide ein liebenswürdiges Geheimnis. Die Liebe interessiert sich für die Einmaligkeit des MENSCHEN, nicht für die Charakteristika des anderen Geschlechts. Auch nicht für Etiketten, die man Männern und Frauen pauschal anklebt.

Aber was die Sexualität anbelangt, SIND Männer und Frauen doch verschieden...?
Sicher sind sie körperlich verschieden. Das ist ja auf den ersten Blick ersichtlich. Und natürlich gibt es auch hormonelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Aber wie sich diese bei jedem einzelnen Menschen auswirken, ist so unterschiedlich, dass wir daraus nicht einfach „biologische Grundmuster“ für Männer und Frauen ableiten können, oder wie Männer und Frauen angeblich als Geschlechtswesen beschaffen seien. Was jedes Paar viel mehr brennend interessieren sollte, ist die Jahrtausende alte Unterdrückung der Frau durch den Mann. Ich werde das Gefühl nicht los, dass dort ein viel wesentlicherer Schlüssel für das liegt, was sich in unseren Schlafzimmern abspielt - und auch für den allgemein gesellschaftlichen Umgang mit Sex. Wenn wir uns schon über Unterschiede Gedanken machen wollen, dann wäre das ein guter Ansatz...

Mir fällt schon noch ein Unterschied ein: Frauen kommunizieren in der Beziehung anders als die Männer!
Jaja, ich weiß - man sagt, die Männer seien tendenziell mehr oder weniger behindert im verbalen Ausdruck, sie seien verschlossene Gefühlskrüppel und auf den Mund gefallen, wenn‘s um emotionale oder Beziehungs-Themen geht. Auch da muss ich dir widersprechen (lächelt) - auch diese Idee ist für mich ein abgestandenes Stereotyp. Meine Erfahrung in der Beratungspraxis ist eine ganz andere: Männer sind überhaupt nicht behinderter in der Zweierkommunikation als die Frauen. Sie reagieren vielleicht adäquater auf die Tatsache, dass man einander nicht wirklich zuhört, wenn die Themen schwierig werden: Dann neigen sie zum Schweigen. Es hat ja tatsächlich keinen Sinn weiterzureden, wenn niemand da ist, der hören will, was gesagt wird.

Okay, ICH höre dich! (grins) Aber zurück zur Sexualität: Viele Frauen sagen, guter Sex wäre es nur mit einem Mann, den sie auch lieben. Und für viele Männer ist es offenbar grad umgekehrt: Für sie kann gerade aus gutem Sex Liebe entstehen, sagen sie... Ist das so?
In unseren Köpfen ist es so, ja. So stellen wir uns Männer und Frauen vor. Und so sind sie dann halt auch. Genau nach unseren Vorstellungen.
Weißt du, unser größtes Sexualorgan sitzt zwischen unseren Ohren: das Gehirn ist tatsächlich größer und effizienter als unser Herz. Das zeigt sich überdeutlich am Beispiel der Pornografie. Die Vorstellungen, die wir - vor allem wir Männer - über Sexualität im Kopf haben, sind extrem geprägt von pornografischem Material. Wir finden geil, was uns die Pornoindustrie als geil vorsetzt. Die eigene erotische Kreativität und die sexuelle Fantasie verkümmern mehr und mehr... Und JETZT hast du deinen Unterschied: bei den Frauen ist das Interesse dafür offenbar viel geringer.

Und warum sind hauptsächlich die Männer scharf auf Pornos?
Frauen waren über Epochen hinweg kaum sexuell selbstbestimmt. Das hat eine lange kulturelle Tradition. Die Pornografie ist die logische Fortsetzung dieser Frauenverachtenden Geschichte zwischen den Geschlechtern. Und wenn ein Männerhirn versaut ist von versauten Bildern, läuft es natürlich weiteren versauten Bildern nach. Ein “Schweinekreis” sozusagen.
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Männer sind also „versaut“...?
Unsere männlichen, pornografisch gestanzten Vorstellungen sind strikt abgerichtet auf die schnörkellose, kürzestmögliche Befriedigung der simplen Schwanzbedürfnisse - ohne Umschweife geht’s formatfüllend aufs männliche Absaften zu. Das Wichtigste ist, dass es dem Mann kommt. Die Frau kommt nie - ich zumindest habe noch nie eine Frau in einem Porno gesehen, die zweifelsfrei einen Orgasmus gehabt hätte. Pornografie ist geschaffen von Männern für Männer, mit dem einzigen Zweck, dieselben aufzugeilen. Sie übertreibt und überzeichnet und schneidet alles weg, was vor und nach der Kopulation passieren könnte. Für die meisten Männer ist das unwiderstehlich - viele Frauen empfinden es als widerlich. Übrigens kommen ja auch in fast allen Kinofilmen Kopulationen vor. Sie sind praktisch immer gleich dargestellt und dauern meistens ungefähr gleich lang: zwischen 30 und 45 Sekunden. So lernen wir gründlich, was Sexualität ist.

Wie kann man dieser Tendenz entgegenwirken?
Keine Ahnung. Vielleicht drüber weinen. Weil es so unsäglich traurig ist. Weil die überwältigende Pornoflut im Internet gerade dabei ist, die Welt unserer körperlichen Liebe zu zersetzen.

Pornografie machen Männer für Männer - mit dem einzigen Zweck, dieselben aufzugeilen.


Darf denn Sexualität nicht auch einfach den Sexualtrieb befriedigen?
Sicher darf sie das! Nur ist das leider nicht so einfach, wie’s in deiner Frage durchscheint. Meistens stimmen in den sogenannten „festen“ Beziehungen die klimatischen Voraussetzungen nicht, um „einfach“ die gegenseitigen sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen... obwohl das der Beziehung eigentlich gut täte. Vereinfacht gesagt: Das Herz macht nicht mit. Natürlich kann man auch Sex ohne Herz haben. Das nennt man dann „häusliche Prostitution“. Das geschieht immer dann, wenn das Klima ungeeignet ist, weil die Liebe sich verkrochen hat. Weil das Herz „so“ nicht will. Wenn ein Paar nicht im unermüdlichen Gespräch über sein Liebesleben bleibt, können sich die beiden auch nicht näher kommen. Im schlimmsten Fall bleiben dann nur zwei Möglichkeiten: entweder die Selbstbefriedigung des Mannes an der Frau oder das eheliche Zölibat.

Beides nicht sehr befriedigend...
Das ist Geschmackssache und eine Frage der Ansprüche. Für die meisten Menschen ist es ja immer noch so, dass „Befriedigung“ gleichgesetzt wird mit Orgasmus. Wer den Orgasmus geschafft hat, nennt sich „befriedigt“. Ich habe da meine Zweifel. Ich finde, der Orgasmus hat einen viel zu guten Ruf. Für mich ist das Orgasmusstreben eine der Ursachen des weit verbreiteten Elends in unseren Ehebetten. Bei uns herzbegabten Menschen möchte sich Sexualität viel lieber ans Leben anlehnen, als an Leistung und Erfolg.

Ist das nicht auch eine Frage des Alters? Bewegen sich Lust und Liebe nicht automatisch mehr in die Herzebene, wenn man 20 oder 30 Jahre zusammenlebt? Leider nein. Beim Sex ist es ja nicht so wie bei gutem Wein, der vom bloßen Liegen immer besser wird. Lust und Liebe sind investitionsabhängig.

Reden über Sex sollte genauso ein erotisches Erlebnis sein, wie die Sexualität selbst - oder sagen wir, fast so erotisch.


Welche Investitionen braucht es?
Zuallererst das sorgfältige Bemühen von beiden, Mann und Frau, immer wieder neu herauszufinden, was sie beide einbringen können, damit ihre Beziehung und Sexualität lebendig bleiben. Das gibt’s nämlich in keinem Buch nachzulesen. Auch nicht in der WEGE. Das muss sich jedes Paar individuell „erarbeiten“. Am zweitwichtigsten ist der Rohstoff, aus dem Liebe gemacht werden kann: die Zeit. Sie ist knapp in sehr vielen Beziehungen... wie so viel Anderes weiter oben auf der Prioritätenliste steht - der Beruf, die Kinder, der Sport, das Fernsehen, der Computer, alles Mögliche. Und eine weitere unverzichtbare Investition zu Gunsten einer geglückten Sexualität ist das Reden. Eine stumme Sexualität hat nur wenig Chancen, dem Vertrocknen zu entgehen. Interessanterweise fürchten viele Leute das Gespräch über Sex - weil sie davon ausgehen, dass Sex nur dann ein Thema werden sollte, wenn man Probleme im Bett hat. Solange alles gut geht, halten sie es für nicht nötig, drüber zu reden. Und wenn’s dann schwierig wird, sind sie überfordert. Ich finde, Reden über Sex sollte genauso ein erotisches Erlebnis sein, wie die Sexualität selbst - oder sagen wir, fast so erotisch. Erotisches Reden macht dann Freude, wenn man sich regelmäßig austauscht über all die kleinen glücklichen Erfahrungen im Bett. Sogar das braucht Mut.
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Und die Treue? Ist die nicht auch eine wichtige Investition?
Ich glaube, wenn noch nie jemand etwas von Treue gehört hätte, wäre kein Mensch treu. In unserer Kultur gilt Treue als hochrangiger Wert. In Umfragen wird das Treusein regelmäßig wichtiger eingestuft als die Liebe. Diese Wertordnung hat nicht nur mit moralischen Maßstäben, mangelnder Selbstsicherheit und Verlustängsten zu tun, wie oft behauptet wird. Die Idee der Treue erinnert uns auch an die goldene Zeit unserer Verliebtheit, wo es uns nicht im Traum eingefallen wäre, untreu zu werden. Deshalb stürzen sich auch heute noch die meisten verliebten Paare in ein Treuegelöbnis bis ans Ende ihrer Tage, schwören sich hoch und heilig, man wolle miteinander alt werden - ohne eine Ahnung davon zu haben, was es heißt, gemeinsam alt zu sein. Denn wenn die erste Zeit der Verliebtheit verblüht ist, bekommt man es mit den anstrengenden Seiten des Partners zu tun und dann wird manchmal auch die Treue beschwerlich.

Aber es gibt sie doch die Paare, die sich ein Leben lang treu sind? Sicher, ich kenne ein paar Hundert Paare, die eine ausschließliche Beziehung haben. Niemand weiß aber, welche Motive hinter dieser Treue stehen, ob sie freiwillig treu sind oder ob sie nicht anders können... Wir dürfen nicht vergessen, dass ein Versprechen „bis dass der Tod uns scheidet“ noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchschnittlich 15 gemeinsame Jahre bedeutete. Heute verpflichtet der gleiche Schwur auf rund 50 Jahre. Wer um Himmels Willen schafft diese ewige Treue, ohne sich selber untreu zu werden? Die schwierigste Herausforderung besteht wahrscheinlich darin, dem Partner treu zu sein und gleichzeitig sich selbst. Dieses Dilemma ist eine unserer großen Wachstumschancen.

Lieber Klaus, herzlichen Dank für das spannende Gespräch. Ich freu mich schon aufs nächste Mal...
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor